Pushpak Bhagavata Purana Buch 6Zurück WeiterNews

6.16. König Chitraketu erkennt den Höchsten Herrn

Suka, der Sohn von Vyasa, sprach:
Oh König, der himmlische Heilige Narada ließ den Geist des verstorbenen Prinzen vor den Augen der Verwandten erscheinen, die voller Trauer klagten, und sprach zum ihm:
Oh individuelle Seele (Jiva-Atman), sei gesegnet und sieh, wie deine Mutter, dein Vater und deine Freunde und Verwandten über dich klagen und zutiefst verzweifelt sind. Mögest du in deinen Körper zurückkehren und dein Leben absolvieren. Übernimm den königlichen Thron deines Vaters und erfreue dich am Leben im Kreise deiner Verwandten!

Und die individuelle Seele antwortete:
In vielen Geburten wanderte ich aufgrund meines Karmas zwischen den Göttern, Menschen und Tieren. Warum sollen gerade diese beiden Menschen für mich Vater und Mutter sein? Im Laufe der endlos langen Zeit waren schon alle Wesen meine Eltern, Geschwister oder Kinder, meine Freunde oder Feinde, meine Wohltäter oder Neider. So wie Gold, Geld und andere Handelswaren von einer Person zur anderen wandern, so wandert auch die individuelle Seele durch verschiedene Arten von Körpern, gezeugt von verschiedenen Vätern und geboren von verschiedenen Müttern. Man sieht überall, daß die körperlichen Bindungen in der Welt nur vorübergehend sind, und nur vorübergehend fühlt man sich als Eigentümer, solange man damit verbunden ist. So identifiziert sich auch die individuelle Seele durch eine bestimmte Geburt mit einem bestimmten Körper solange sie sich darin erkennt, obwohl die Seele in Wahrheit gar keine körperliche Form hat. Die Seele selbst ist ewig, unvergänglich und rein geistig. Sie ist das selbstleuchtende Licht, das sich in allen Körpern verkörpert. Sie ist Herr und Meister der Illusions- und Schöpferkraft (Maya), die durch die drei natürlichen Qualitäten (Güte, Leidenschaft und Trägheit) die ganze körperliche Welt manifestiert. Sie unterliegt nicht der Vorstellung von Begierde und Haß oder Mein und Dein. Sie ist der einzige Zeuge der verschiedenen Arten des Bewußtseins und dem bewußten Handeln. Die Höchste Seele ist unabhängig von Glück und Leid, die aus den Früchten der Taten entstehen. Sie wohnt im Herzen aller Wesen als der vollkommen unabhängige Zeuge von Ursache und Wirkung.

So sprach die individuelle Seele und verschwand vor den Augen der Anwesenden. Die Verwandten waren höchst erstaunt, lösten die Fesseln ihrer Anhaftung und gaben ihre Klage auf. So konnte die Familie des Sohnes die Anhaftung überwinden, die nur schwer überwindbar ist und zu Wehklage, Wahn, Angst und Sorgen führt. Danach trugen sie den Leichnam davon, um die nötigen Riten durchzuführen. Und jene, die das Kind getötet hatten, schämten sich und verloren jeglichen Glanz. Alle erinnerten sich an die Worte des Brahmanen (Angiras, daß nach der Freude das Leid kommt) und führten gemäß den Anweisungen der Priester das Totenopfer in der Yamuna durch. König Chitraketu erreichte durch die Worte der beiden Brahmanen das geistige Erwachen und tauchte befreit aus dem dunklen Brunnen der familiären Bindung auf, wie ein Elefant aus einem Schlammteich. Und nachdem er in der Yamuna gebadet und nach den Geboten das Wasseropfer mit gezügelten Gedanken und zurückgezogenen Sinnen durchgeführt hatte, verneigte er sich vor den beiden geistigen Söhnen Brahmas und brachte seine Ehrerbietung dar.

Der Heilige Narada freute sich über die Hingabe des Verehrers, der die Selbstbeherrschung erreicht hatte, und offenbarte ihm das versprochene Gebet für den Höchsten Herrn:
OM, Verehrung dem Höchsten Herrn als Vasudeva (Herr über das reine Bewußtsein)! Laß uns über Pradyumna, Aniruddha und Sankarshana meditieren (die Herren über Vernunft, Denken und Ichbewußtsein, siehe Kapitel 3.26). Verehrung der vollkommenen Manifestation der Weisheit, der Verkörperung höchster Glückseligkeit und dem Wesen von Freude und Frieden, durch die man sich von der Welt der Gegensätze abwendet. Durch die Verwirklichung deiner Glückseligkeit beruhigen sich die Wellen auf dem weltlichen Ozean. Verehrung dem Höchsten Herrn der Sinne, dem Grenzenlosen, der das ganze Universum verkörpert. Verehrung dem Einen ohne ein Zweites, dem reinen Geist, der keine Form hat und weder mit Worten ausgedrückt noch mit Gedanken begriffen werden kann, weil er jenseits von Ursache und Wirkung ist. Möge er uns beschützen! Wie alle Töpferwaren aus Erde gemacht werden, durch Erde bestehen und zur Erde zurückkehren, so wird alles aus ihm geboren, existiert durch ihn und kehrt zu ihm zurück. Verehrung dem Höchsten Brahman. Wir verneigen uns vor dem, der vom tiefsten Inneren bis zum Äußersten der Himmel ausgedehnt ist und durch universale Intelligenz, Gedanken, Sinne und Lebenskraft nicht begriffen werden kann. Körper, Lebenskraft, Sinne, Gedanken und universale Intelligenz sind alles Teile, die von ihm durchdrungen sind. Ohne ihn wäre nichts bewußt und lebendig, wie ein totes Stück Eisen. OM, Verehrung dem Höchsten Herrn, dem Höchsten Geist, der Höchsten Seele und dem Höchsten Meister aller Kräfte, dessen Lotusfüße von den Händen der besten Verehrer umarmt und gestreichelt werden. Verehrung der Höchsten Gottheit (Parama-Parameshthin)!

So offenbarte Narada dieses Gebet dem hingebungsvollen König und kehrte mit Angiras in das Reich des selbstgeborenen Brahma zurück. Oh König, Chitraketu sang das Gebet eine Woche lang mit ganzer Konzentration, während er nur von Wasser lebte. Er hielt sich strikt an die Gebote und erlangte nach sieben Tagen des intensiven Gebetes die Meisterschaft der Vidyadharas (der „Wissensträger“). Durch diese geistige Übung kam er auf dem Weg zur Erleuchtung gut voran und empfing in wenigen Tagen den Schutz der Lotusfüße der Gottheit in Form von Sesha (Ananta bzw. Sankarshana). Er sah den Meister und Höchsten Herrn mit dem lächelnden Lotusgesicht, den rötlichen Augen, einer Haut, so strahlend wie der weiße Lotus, in blaue Seide gehüllt, mit glitzernder Krone, Armreifen und Gürtel inmitten seiner vollkommenen Verehrer. Dieser Anblick löschte alle seine Sünden aus, so daß er sich Ihm zufrieden und mit reinem Herzen wie ein vollkommener Verehrer nähern konnte. Mit der allumfassenden Liebe tief von innen bewegt verehrte er mit Tränen in den Augen und zu Berge stehenden Härchen den ursprünglichen Höchsten Geist (Adi-Purusha). Er benetzte den Ruheplatz zu den Füßen des Herrn immer wieder mit seinem Tränenopfer und war lange Zeit nicht fähig, einen einzigen Buchstaben eines Gebetes auszusprechen, weil seine Stimme in reiner Liebe versunken war. Es dauerte lange, bis der König mithilfe der Vernunft die Gedanken und äußeren Sinne wieder beherrschen konnte, die Macht über die Sprache bekam und die Verkörperung der liebenden Hingabe und der heiligen Schriften ansprach, den Lehrer aller Wesen.

Und König Chitraketu sprach:
Oh Unbesiegbarer, du wirst von denen erobert, die sich selbst beherrschen. Du gibst dich voller Mitgefühl den Verehrern, die von dir erobert mit beständigem Geist deine Herrlichkeit preisen und frei von Verlangen sind. Oh Höchster Herr, mit der Illusion von Unabhängigkeit konkurrieren die Schöpfer der Welt, die nur ein Teil von dir sind, vergeblich miteinander um deine Herrschaft bezüglich der Schöpfung, Erhaltung und Auflösung der kosmischen Verkörperung. Ohne Anfang, Mitte und Ende verkörperst du alles vom kleinsten Teilchen bis zum ganzen Universum vom Anfang bis zum Ende, und alles, was dazwischen ist, bist du allein. Dieses ganze Welten-Ei, das aus sieben Schichten bis zur Erde besteht, von denen jede zehnmal so groß wie die andere ist (siehe Kapitel 3.26), gleicht doch nur einem winzigen Atom unter Milliarden ähnlichen Atomen in dir, dem Grenzenlosen. Menschen, die wie Tiere der Begierde folgen, verehren nur Teile von dir und können dein ganzheitliches Wesen nicht erkennen. So ist auch das Glück, das sie erfahren, so vergänglich wie die Herrschaft der weltlichen Könige. Ein Geist, der von sinnlicher Begierde beherrscht wird, führt wie gerösteter Samen nicht mehr zu Wachstum und Heilung in dir, oh Höchster Herr. Nur wer deine Höchste Seele vollkommen erkannt hat, wird nicht mehr vom Netz der Gegensätze gefangen. Wer auf dem Weg zur Befreiung liebende Hingabe übt, wird von dir erobert, oh Unbesiegbarer, denn du lehrst den Prozeß der liebevollen Hingabe. Dies sind die reinen Verehrer, die sich nicht mehr nach materiellem Glück sehnen, die großen Weisen, die innerlich zufrieden sind. Auf allen anderen Wegen mangelt es an ganzheitlichem Bewußtsein (bzw. Vernunft), und man entwickelt in der Gesellschaft das Ichbewußtsein von „Mein“ und „Dein“. Alle anderen Lehren erzeugen eine unreine und gegensätzliche Sicht, die an die Zeit (bzw. Vergänglichkeit) und das Adharma der Untugend und Ungerechtigkeit bindet.

Aus welchem Grund ist es für mich selbst oder andere von Vorteil, sich selbst oder andere mit Gewalt zu verletzen? Eine solche Verletzung, die zu wachsendem Zorn führt, kann nicht dem Dharma entsprechen. Deine Lehre der liebevollen Hingabe ist frei von Gewalt, und wer diesem Dharma folgt, wird zum Hochbeseelten, und für ihn verschwindet die Trennung unter den Lebewesen, sowohl untereinander als auch von dir selbst, dem Höchsten Herrn. Diese Auflösung der Trennung in dir, oh Höchster Herr, beendet die persönliche Sünde für jeden, der dich mit dem geistigen Auge erkennt. Auf diese Weise kann sogar ein Ausgestoßener vom Leid der körperlichen Existenz befreit werden, sobald er deine heiligen Namen hört.

Indem wir dich jetzt vor uns sehen, oh Höchster Herr, ist jede Unreinheit aus unserem Geist verschwunden. Warum sollte es auch anders sein, als es der große erleuchtete Heilige (Narada) vorhergesagt hat? Oh Grenzenloser, als Höchste Seele der ganzen Welt weißt du alles über jedes einzelne Lebewesen, das in der äußeren Welt lebt. Was wir selbst wissen, ist im Vergleich zu dir, unserem allumfassenden Lehrer, wie ein Glühwürmchen im Vergleich zur Sonne. Höchste Verehrung, oh Herr der Schöpfung, Erhaltung und Auflösung des Weltalls! Du bist jenseits des Wissens derer, die sich an die Illusion und materiellen Vorstellungen unabhängiger Existenz klammern. Wie die Sinne dich, oh Höchster Herr, in Form von Objekten wahrnehmen, so versuchen die Herrscher dich in Form der Welt zu regieren. Doch diese ganze Erde ist nur wie ein Senfkorn auf einem deiner Köpfe. Verehrung sei dem Höchsten Herrn in Form von Ananta (der Urschlange) mit den tausend Köpfen!

Und der ehrenwerte Suka fuhr fort:
Oh Bester der Kurus, als der Höchste Herr in Form des göttlichen Ananta verehrt wurde, war er mit Chitraketu, dem König der Vidyadharas, zufrieden und antwortete ihm.

Der Höchste Herr sprach:
Oh König, indem du mich durch das Gebet von Narada und Angiras direkt erkennen konntest, hast du große Vollkommenheit erreicht. Ich, die Ursache und Höchste Seele aller Wesen, die sich überall verkörpert, bestehe in zwei untrennbaren Aspekten, dem Wort von Brahman (Shabdabrahman, auch OM, Veda oder reines Wissen) und dem Höchsten Brahman (absolute Wahrheit). Die Höchste Seele breitet sich in der Welt aus, und die ganze Welt besteht innerhalb der Höchsten Seele (Atman). Beide sind von mir erschaffen und durchdrungen. Als Träumer sieht man die Welt während des Schlafs im Inneren, und im Wachzustand im Äußeren. Die verschiedenen Bewußtseinszustände (traumhaftes Schlafen und Wachen sowie traumloses Schlafen und Wachen) sind Zustände der Höchsten Seele, die durch die Illusions- und Schöpferkraft (Maya) entstehen. Wer das erkennt, erinnert sich immer und überall an seinen höchsten Schöpfer und Zeugen. Erkenne mich als die Höchste Seele und den Höchsten Geist frei von natürlichen Eigenschaften, durch den der Träumer erwachen und durch Einsicht das höchste Brahman erkennen kann. Wer sich als das reine Bewußtsein erkennt, das alle Bewußtseinszustände verbindet, erkennt das höchste Brahman. Wer dieses geistige Wesen von mir vergessen hat, führt ein körperlich bedingtes Leben in Trennung (durch das Ichbewußtsein) von der Höchsten Seele, so daß er durch Geburt und Tod von einem Körper zum nächsten wandern muß. Eine menschliche Geburt in dieser Welt zu erreichen, eröffnet die große Möglichkeit, durch Weisheit und geistige Erkenntnis zur Selbsterkenntnis und damit zur Selbstverwirklichung zu gelangen. Wer diese Erkenntnis nicht erwirbt, kann niemals reines Glück und wahren Frieden finden.

Wer die große Mühe bedenkt, in dieser Welt zu arbeiten, wo alles Erreichte dem Wandel unterworfen ist, sollte über die Freiheit von Angst meditieren und durch höhere Erkenntnis den weltlichen Begierden entsagen. Ehemann und Ehefrau verbinden sich, um glücklich und frei von Leid zu sein, doch solange sie (in einer Welt der Gegensätze) existieren, können sie weder das Leid beenden noch das reine Glück erreichen. Wer sich gedanklich für klug hält und damit in der Welt der Gegensätze lebt, kann nur äußerst schwer verstehen, was es heißt, jenseits der drei Bewußtseinszustände (des traumhaften Schlafens und Wachens sowie des traumlosen Schlafens) zu sein (also im traumlosen Wachen). Nur wer durch Belehrung, Erfahrung und Erkenntnis von der Welt der Gegensätze befreit wurde, kann in dieser Weisheit voll und ganz zufrieden mein wahrer Verehrer sein. Die Verwirklichung der Einsicht in die Einheit von individueller und Höchster Seele kann als das höchste Ziel im Leben für jene vernünftigen Menschen betrachtet werden, die sich im Yoga der liebenden Hingabe (im Bhakti-Yoga) vereinen. Oh König, vertraue meinen Worten, und du wirst bald die Vollkommenheit durch höchste Erkenntnis und praktische Weisheit erreichen.

So sprach die Höchste Seele aller Wesen, der Höchste Herr und Lehrer des Universums zu Chitraketu, ermutigte ihn und verschwand vor seinen Augen.


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