Pushpak Panchatantra Buch 2Zurück WeiterNews

8. Erzählung - Chitrangas frühere Gefangenschaft und Befreiung

In früherer Zeit, als ich noch ein Kind von sechs Monaten war, lief ich aus Kinderei an der Spitze von allen anderen, und nachdem ich mich spielend weit entfernt hatte, wartete ich auf meine Herde. Wir haben nun zwei Gangarten, die laufende und springende: Von diesen beiden kannte ich die laufende aber nicht die springende. Einstmals aber, wie ich herumstreifend die Scharen der Gazellen nicht sehe, so schaue ich mich mit sehr ängstlichem Herzen nach allen Seiten um, wo sie wohl hingegangen sein mögen und sehe sie mir gegenüber stehen, denn sie waren mit der springenden Gangart über ein Netz gesprungen, standen alle zusammen mir gegenüber und blickten nach mir hin. Da ich aber der springenden Gangart unkundig war, so wurde ich von dem Jägernetz gepackt, und wie ich nun in der Absicht zu meiner Herde zu eilen, das Netz anziehe, so wurde ich vom Jäger von allen Seiten fest verstrickt und kopfunter zu Boden gestürzt, während die Gazellenherde jegliche Hoffnung auf mich aufgab und davoneilte.

Als nun der Jäger herankam, dachte er: „Das ist ein Junges, nur zum Spielen tauglich!“ Sein Herz wurde erweicht, und er bestimmte mich nicht zum Tode. Nachdem er mich sorglich nach Hause geführt hatte, schenkte er mich dem Sohne des Königs zum Spielzeug. Dieser Königssohn war überaus vergnügt, als er mich erblickte, gab dem Jäger eine Belohnung und erfreute mich mit beständiger Pflege durch Reiben, Baden, Füttern, Salben mit Düften und passende und sinnerfreuende Speisen. Auch die Bewohnerinnen des Harems und die Kinder hatten das größte Vergnügen an mir, und indem ich von einer Hand in die andere geriet, wurde ich von ihnen durch Zerren am Hals, Vorder- und Hinterfüßen, Ohren und anderen Körperteilen sehr geplagt. Als ich nun einst am Lager des Königssohns stand, erinnerte ich mich meiner Herde und sprach: „Wann wird dies mir zuteil werden, daß ich hinter die eilende, von Wind und Regen durchpeitschte Gazellenherde laufen kann?!“

Da rief der Königssohn mit sehr erschrockenem Herzen „Wer hat das gesagt?“, schaute sich nach allen Seiten um und erblickte mich. Nachdem er mich gesehen, dachte er: „Hat das ein Mensch oder ein Wild gesprochen? Dann führt es sicher zum Wahnsinn, und ich bin auf jeden Fall vernichtet!“ Und wie von einem bösen Geist ergriffen, verließ der Königssohn mit Mühe wankend das Haus. Und da er sich gleichsam von einem Dämon besessen glaubte, sprach er zu Beschwörern und Zauberern, indem er durch eine große Geldsumme ihre Begierde reizte: „Wer diese Krankheit von mir entfernt, dem verheiße ich große Ehre.“ Ich aber wurde von einem ohne Prüfung handelnden Menschen mit Stock-, Stein- und Keulenschlägen mißhandelt, indem er sagte: „Was schadet es, das Vieh umzubringen?“ Aber ein Guter rettete mir doch das Leben. Dieser erkannte meinen Zustand und sprach zum Königssohn: „Oh Trefflicher! Während der Regenzeit ist er infolge dieser Periode sehnsüchtig geworden, hat sich seiner Herde erinnert und jenes gesprochen: «Wann wird dies mir zuteil werden, daß ich hinter die eilende, von Wind und Regen durchpeitschte Gazellenherde laufen kann?!» Ist dieses etwa der unvernünftige Grund deiner Krankheit?“

Nachdem der Königssohn dies gehört, war er von seiner Krankheit befreit und gewann seinen früheren natürlichen Zustand wieder. Darauf befahl er seinen Leuten: „Badet diese Gazelle in einem wasserreichen See und laßt sie in diesem Walde frei.“ Und sie handelten entsprechend. So habe ich schon früher die Gefangenschaft kennengelernt und wurde dennoch durch die Macht des Schicksals von neuem gefangen.

Als er dieses gehört, sprach Hiranyaka: „Mir ist dadurch, daß auch Leute wie du, welche die Lehren der Lebensklugheit kennen, in einen solchen Zustand geraten, die ganze Wissenschaft sehr verleidet worden. Darum fragte ich dich.“ Darauf sagte jener: „Lieber! Durch die Taten unserer früheren Existenzen wird auch der Verstand vernichtet. Denn man sagt auch: Eine Reihe von Buchstaben schreibt uns der Schöpfer auf die Stirn, die wischt selbst ein sehr Kluger mit seiner Klugheit nimmer aus.“

Indem diese beiden so sprachen, kam auch Mantharaka, dessen Herz vom Unglück des Freundes gequält war, langsam nach dieser Gegend herangekrochen. Als ihn Laghupatanaka herankommen sah, rief er: „Ach! Da hat sich etwas Übles ereignet!“ Hiranyaka sprach: „Kommt der Jäger etwa?“ Laghupatanaka antwortete: „Laß doch nur die Geschichte mit dem Jäger! Mantharaka kommt da heran. Das tut er gegen alle Regeln der Lebensklugheit. Durch ihn kommen sicher auch wir in Gefahr, getötet zu werden. Denn wenn der böse Jäger kommt, kann ich zwar in die Luft fliegen, du aber wirst in ein Loch kriechen und dich so retten; auch Chitranga wird eilig in das Innere des Waldes fliehen. Was soll aber dieses Wassergeschöpf hier auf dem Trocknen anfangen? So denke ich voll Besorgnis.“

Mittlerweile kam Mantharaka herbei, und Hiranyaka sagte: „Lieber! Du hast nicht recht gehandelt, daß du hierhergekommen bist! Drum geh so rasch wie möglich wieder weg, ehe der Jäger kommt!“ Mantharaka aber sprach: „Lieber! Was soll ich machen? Ich kann nicht dort bleiben und den Feuerbrand, welchen mir des Freundes Unglück verursacht, ertragen. Darum bin ich hierhergekommen. Sagt man ja doch mit Recht: Wer ertrüge die Trennung von Geliebten und den Verlust von Hab und Gut, wäre nicht die Gesellschaft der Freunde, die dem besten Heilmittel gleicht? Und auch: Lieber das Leben verlieren, als fern von euresgleichen sein! Solche Wesen wie ihr, kommen nimmer zum zweiten Mal zur Welt.“

Indem er so sprach, kam auch der Jäger mit dem Köcher in der Hand herbei. So wie sie ihn sah, zerbiß die Maus augenblicklich die aus Därmen geflochtene Schlinge. Sogleich begann Chitranga eilig davon zu laufen; die Krähe flog auf einen Baum, und die Maus verkroch sich in ein nahes Loch. Der Jäger aber, dessen Herz über die Flucht des Wildes betrübt war und der sich umsonst gequält hatte, dachte bei sich, als er den Mantharaka sich mit größter Langsamkeit auf dem Lande bewegen sah: „Wenn mir auch diese Gazelle vom Herrn genommen ist, so ist mir doch diese Schildkröte zur Speise in die Hand gegeben. Ihr Fleisch wird heute eine ausreichende Nahrung für meine Familie liefern. Denn man sagt auch: Fliege aufwärts in die Lüfte, sinke nieder zum Erdengrund, laufe durch die ganze Erde: Nichts stößt dir zu, was nicht verhängt wurde.“

Nachdem er so bei sich gedacht hatte, wickelte er sie in Gras ein und band sie an seinen Bogen. Dann nahm er sie auf die Schulter und machte sich auf den Weg nach Hause. Mittlerweile, als er sie wegtrug, jammerte Hiranyaka, von Schmerz erfüllt: „Oh Jammer! Oh Jammer! Bevor ich noch kam zu dem Ende eines Unglücks gleichwie zu des Meeres Ufer, so steht mir schon wieder ein zweites nahe: Gibt es einen Riß, häufen sich weitere Übel. Solange man noch nicht gestrauchelt ist, geht es vergnügt auf ebenem Pfad, aber strauchelt man nur einmal, dann ist es rauh bei jedem Schritt. Und: Was nachgibt und zugleich fest ist und im Unglück nicht niedersinkt, ein Bogen, Freund und eine Ehegattin von reinem Stamm sind schwer zu erlangen. Nicht auf die Mutter und Gattin, nicht den Bruder oder eigenen Sohn setzen die Menschen solch Vertrauen, wie auf einen treuen Freund. Wäre vom Geschick doch nur der Verlust meines Reichtums über mich verhängt gewesen! Warum ist nun aber auch mein Freund mir geraubt worden, der mir, dem vom Wege Müden, gleichsam als Ruheplatz diente? Es kann mir wohl ein anderer Freund zuteil werden, aber keiner, der dem Mantharaka gleicht. Denn es heißt auch: Angenehme Unterhaltung, Mitteilung von Geheimnissen und Erlösung aus Unglück sind der Freundschaft dreifache Frucht. Drum wird mir nach ihm nichts anderes Freund sein! Warum läßt nur der Schöpfer auf mich unaufhörlich Pfeile des Mißgeschicks regnen?! Warum zuerst der Verlust eines so großen Vermögens? Dann der Abfall meines Gefolges? Darauf die Auswanderung aus meinem Lande? Dann die Trennung von meinem Freund? - Aber nein! Es ist ja nur in Übereinstimmung mit dem Gesetz, welches über dem Leben sämtlicher Geschöpfe waltet. Denn es heißt auch: Den Leib bedrohen stets Leiden, das Glück täuscht einen Augenblick, und Bereinigung sowie Trennung ist das Los alles Körperlichen. Und so: Ist einer wund, fallen die Streiche zehnfach; kaum fehlt es an Brot, flammt des Magens Brennen auf; im Mißgeschick brechen Feindschaften empor; gibt es einen Riß, häufen sich weitere Übel. Ach! Richtig hat einer gesagt: Eine Schutzwehr, wenn Unglück droht, ein Gefäß der Liebe und des Vertrauens - wer hat dies Kleinod geschaffen, das einsilbige Wörtchen: Freund?“

Mittlerweile kamen Chitranga und Laghupatanaka laut jammernd zu demselben Ort zurück. Da sprach Hiranyaka: „Ach! Wozu unnützes Klagen?! Solange unser Mantharaka noch nicht aus unserm Gesichtskreis entfernt ist, laßt uns an ein Mittel denken, ihn zu befreien! Denn man sagt auch: Wer in ein Unglück gefallen aus Betörung nur wehklagt, der vermehrt nur sein Unglück, aber endet es nimmermehr. Das einzige Mittel gegen Unglück nach der Lebenserfahrenen Spruch heißt: Seht zu, wie ihr es wegschafft! Und versinkt niemals im Kummer! Und ferner: Wenn man berät, alten Gewinn zu wahren und wie man sich neuen hinzuerwerbe, oder wie man sich frei mache, wenn man in Unglück geriet, so ist dieses die beste Beratung.“

Nachdem sie dies gehört, sagte die Krähe: „Hm! Wenn du so meinst, so laß uns tun, was ich sagen werde. Chitranga soll auf den Weg gehen, den der Jäger einschlägt, sich irgendeinem Sumpf nähern, und an dessen Ufer hinfallen, als ob er leblos wäre. Ich werde mich dann auf seinen Kopf setzen und mit sanften Schnabelstößen hineinpicken, damit der böse Jäger ihn für tot hält und im Vertrauen auf meinen, meine Waffe bildenden Schnabel, Mantharaka auf die Erde wirft und des Wildes wegen angelaufen kommt. Währenddessen mußt du die gräsernen Gurte zerbeißen, damit Mantharaka so rasch als möglich in den Sumpf kommen kann.“

Chitranga sagte: „Ah! Diesen Rat hast du herrlich ausgedacht! Unser Mantharaka ist wahrhaftig so gut als wäre er schon frei. Man sagt auch: Gelingen oder Mißlingen ergibt sich aus des Geistes Macht. Diese Macht ist das Haupt für jedes Wesen; das wissen Weise, die Toren nicht. So wollen wir es denn so machen!“

Nachdem nun so geschehen, sah der Jäger den Chitranga auf die angegebene Weise mit der Krähe zusammen am Ufer eines seinem Wege nahen Sumpfes. Nachdem er ihn erblickt hatte, dachte er mit erfreutem Herzen bei sich: „Sicherlich ist das arme Wild, nachdem es mit dem bißchen Leben, das ihm geblieben war, das Netz zerrissen und mit Müh und Not sich in das Innere des Waldes geflüchtet hat, durch den Schmerz, den ihm die Fessel der Schlinge verursacht hatte, dort gestorben. Diese Schildkröte kann mir nicht weglaufen, da sie festgebunden ist. Drum will ich doch auch jenes mitnehmen!“

Nachdem er diese Betrachtung angestellt hatte, warf er die Schildkröte auf die Erde und lief nach der Gazelle. Mittlerweile zerbiß Hiranyaka mit den diamantgleichen Zähnen, welche seine Waffe sind, den Grasgürtel und Mantharaka machte sich mitten aus dem Gras heraus und kroch in den nahen Sumpf. Chitranga aber sprang auf, ehe ihn jener noch erreicht hatte, und machte sich mitsamt der Krähe auf die Flucht. Wie nun der Jäger erstaunt und voll Verdruß zurückkehrt, siehe da! so war währenddessen auch die Schildkröte auf und davongegangen.

Da setzte er sich auf den Boden und rezitierte folgende Strophe: „Dies schöne Wild, obgleich in Schlingen gefesselt, hast du mir dennoch entrissen, und auch die Schildkröte, die schon gefangen war, ist fürwahr! verloren durch deine Fügung. Von Hunger gepeinigt, irre ich im Wald umher ohne Weib und Kinder: Nur zu! Du Geschick! Tue was noch übrig! Auch darauf bin ich schon gefaßt.“

Nachdem er auf diese Weise vielfach gejammert hatte, ging er nach Hause. Sobald dieser Jäger nun soweit als möglich entfernt war, kamen auch jene alle: die Krähe, Maus, Schildkröte und Gazelle voll von der größten Freude an demselben See zusammen, umarmten sich, hielten sich für zum zweiten Mal geboren und brachten ihre Zeit mit großem Vergnügen damit zu, daß sie sich in der geselligen Unterhaltung an schönen Reden ergötzten.

Dies beherzige der Weise, erwerbe sich Freunde und betrage sich gegen seinen Freund aufrichtig. Denn man sagt auch: Wer auf Erden Freunde erwirbt und sich ohne Falschheit benimmt, der wird vereinigt mit diesen nie und nimmer zugrunde gehen.

Hier endet das zweite Buch, genannt „Erwerbung von Freunden“, dessen erste Strophe lautet:

Verständige, Kluge und Vielerfahrene erreichen, sogar mittellos, schnell ihr Ziel, wie die Krähe, Maus, Schildkröte und Gazelle.


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