Pushpak Panchatantra Buch 2Zurück WeiterNews

Zweites Buch - Erwerb von Freunden

Hier beginnt das zweite Buch, genannt „Erwerb von Freunden“, dessen erste Strophe ist folgende:

Verständige, Kluge und Vielerfahrene erreichen schnell ihr Ziel, selbst wenn sie mittellos sind, wie die Krähe, Maus, Schildkröte und Gazelle. Es wird nämlich erzählt: In einer Provinz des Südens liegt eine Stadt, Mahilaropya mit Namen. Nicht weit davon befindet sich ein sehr hoher, großer Feigenbaum, dessen Früchte von mancherlei Vögeln genossen werden, dessen Höhlungen von Insekten bedeckt sind und der mit seinem Schatten die Wanderer erquickt.

Recht passend heißt es ja auch: Der Baum ist wahrhaftig zu preisen, in dessen Schatten das Wild schläft, dessen Blätter allenthalben von einer Menge von Vögeln unterbrochen, dessen Höhlungen von Insekten bedeckt sind, auf dessen Zweigen Affenscharen kosen, und dessen Blüten zutrauensvoll von den Bienen ausgesogen werden: Mit all seinen Gliedern bringt er Freude einem Zusammenfluß von vielen Geschöpfen, als wäre er ein zweiter Weltenbeschützer.

Auf diesem nun wohnte ein Krähenmännchen namens Laghupatanaka („der Leichtfliegende“). Als dieses sich einst auf Nahrungssuche auf den Weg nach der Stadt machte und sich umsah, so stand ihm ein Jäger vor Augen, von sehr schwarzem Körper, mit auswärts gebogenen Beinen, mit aufwärts starrenden Haaren, ganz wie die Diener des Todesgottes gestaltet, und mit einem Netz in der Hand. Als er diesen erblickte, überlegte er furchtsamen Sinnes: „Oh weh! Dieser Bösewicht geht jetzt zu dem Feigenbaum, auf welchem ich wohne. So weiß man denn nicht, ob heute die auf dem Feigenbaum nistenden Vögel umkommen werden oder nicht.“ Nachdem er so mehrfach hin- und hergedacht hatte, kehrte er auf der Stelle um, ging zu demselben Feigenbaum, rief alle Vögel zusammen und sprach zu ihnen: „Hört! Da kommt ein böser Jäger herbei mit einem Netz und Körnern in den Händen. Drum dürft ihr ihm auf keine Weise trauen! Er wird, nachdem er das Netz ausgebreitet hat, Körner davor ausstreuen. Diese Körner müßt ihr alle zusammen ansehen, als ob sie Gift wären.“

Indem er so sprach, kam der Jäger zu dem Fuße des Feigenbaums, spannte das Netz aus, warf die schmackhaften Körner davor, ging etwas abseits und stellte sich in ein Versteck. Die Vögel aber, welche sich hier befanden, wurden von Laghupatanakas Rede wie von einem Riegel zurückgehalten und sahen die Körner an, als wären sie Giftpflanzen.

Doch mittlerweile erblickte der König der Tauben namens Chitragriva („hundert Nacken“), indem er von Hunderten seiner Gefährten umgeben nach Nahrung umherschweifte, diese Körner schon aus weiter Ferne. Trotzdem, daß ihn Laghupatanaka warnte, flog er von seiner Zunge beherrscht hin, um zu essen und fiel samt seinem Gefolge in das große Netz. Sagt man ja doch mit Recht: Die an der Zunge Gier haften, solchen Toren wird unversehens der Tod zuteil, gleichwie Fischen, die mitten im Strom hausen. Vielleicht geht es aber auch so durch die Feindseligkeit des Geschicks, ohne daß man irgendeine Schuld hat. Es heißt auch: Wieso verkannte Ravana die Sünde, eines andern Weib zu rauben? Wie ward von Rama nicht erkannt der Goldgazelle Unwirklichkeit? Und wie ward großes Mißgeschick durch das Spiel dem Yudhishthira zuteil? Wessen Geist von Unglücksnähe verwirrt ist, verliert gewöhnlich den Verstand. Und so: Gebunden von des Todes Stricken, das Herz von Schicksalsschlägen hart getroffen, wird sogar der Weise auf krummen Pfaden gehen.

Mittlerweile war der Jäger, da er diese gefangen sah, mit sehr vergnügtem Sinn und erhobenem Stock herbeigelaufen, um sie zu töten. Chitragriva aber, als er erkannte, daß er samt seinem Gefolge gefangen war, und den Jäger herankommen sah, sagte zu den Tauben: „Ach! Fürchtet euch nicht! Denn es heißt auch: Wer in allen Unglücksfällen den Kopf am rechten Fleck behält, der wird durch dessen Macht sicherlich Rettung finden. Und so: Im Glück sowohl als im Unglück bleiben Hohe sich immer gleich: Die Sonne ist rot bei ihrem Aufgang und rot bei ihrem Untergang. Drum laßt uns alle munter mitsamt dem Netz auffliegen, und wenn wir aus seinem Gesicht sind, machen wir uns los! Wo nicht: Wenn ihr nämlich schwach vor Furcht nicht zugleich munter auffliegt, dann werdet ihr alle umkommen. Es heißt ja: Bloße Fäden, die nicht weichen, starke Fäden, einander gleich, wenn sie zahlreich verbunden sind, binden sie selbst viele Schlangen fest.“

Nachdem so geschehen war, lief der Jäger den Tauben, welche sich mitsamt dem Netz in die Luft erhoben hatten, auf der Erde nach. Alsdann hob er seine Augen in die Höhe und rezitierte diese Strophe: „Mühelos wird, was er wünscht, dem erfüllt, der fromm gelebt. Aber siehe! Dem Unfrommen gehen die Tauben im Fluge durch. Doch vielleicht: So lange die Vögel einträchtig sind, gehen sie samt dem Netze durch. Aber sobald sie sich streiten, fallen sie sicherlich herab.“

Laghupatanaka aber gab sein Suchen nach Futter auf und folgte ihnen aus Neugier nach, was daraus werden würde. Der Jäger nun, da er sah, daß die Tauben seinem Gesichtskreis entflohen waren, kehrte um und rezitierte hoffnungslos diese Strophe: „Was nicht geschehen soll, wird nimmer, und was geschehen soll, geschieht von selbst. Was schon in der Hand scheint, geht wieder verloren, wenn ihm bestimmt ist, nicht zu geschehen. Und so: Wer wider des Geschicks Willen mit Mühe etwas erworben hat, dem geht es hin mitsamt anderen, gleichwie Kuveras (des Reichtums Gottes) Muschelschatz. So muß es denn für jetzt mit dem Wunsch nach Vogelfleisch ein Ende haben, da sogar mein Netz verloren ist, welches mir als Mittel diente, meine Familie zu ernähren.“

Als Chitragriva bemerkte, daß der Jäger nicht mehr zu sehen war, sagte er zu den Tauben: „Ha! Dieser böse Jäger ist umgekehrt! Nun laßt uns voll Vertrauen nach einem Ort nordöstlich von der Stadt Mahilaropya gehen! Da wird uns eine mir befreundete Maus namens Hiranyaka (die „Goldene“) alle Stricke durchbeißen. Denn man sagt ja: Allen Sterblichen kommt Beistand, wenn sie ein Mißgeschick betrifft - und wäre es einzig durch Worte - von keinem sonst als einem Freund.“

So von Chitragriva ermahnt, gingen sie zu Hiranyakas einer Festung ähnlichem Loche. Hiranyaka, in seinem mit hundert Öffnungen versehenem burggleichen Loch verborgen, lebte vergnügt und ohne Furcht vor irgendetwas. Es heißt ja: Zukünftiger Gefahr bedenkend wohnte dort, der Politik kundig, die Maus in einem Loch mit hundert Toren wohlversehen. Chitragriva trat darauf zu der Pforte des burggleichen Loches und rief mit durchdringender Stimme: „He! He! Freund Hiranyaka! Komm rasch herbei! Ich bin in einer sehr unglücklichen Lage.“ Dieses hörend, sprach Hiranyaka noch innerhalb seines burggleichen Lochs: „He! He! Wer bist du? Weshalb bist du gekommen? Welcher Art ist deine unglückliche Lage? Sag an!“ Nachdem er dieses gehört, sagte Chitragriva: „Ich bin dein Freund, der Taubenkönig Chitragriva. Drum komm schnell herbei! Es ist dringend nötig!“

Nachdem er dieses gehört, kam er mit vor Freude in die Höhe starrenden Haaren, vergnügten Sinnes und treuen Herzens eilig heraus. Heißt es ja doch mit Recht: Liebevolle Freunde bringen stets eine wahre Augenlust, sobald sie in das Haus von Hausherren treten, die brav gesinnt. Der Sonne Aufgang, duftender Betel, eine Erzählung der Bharati, ein liebes Weib und ein treuer Freund sind immer neu an jedem Tag. Und so: In wessen Haus unaufhörlich Herzfreunde sich versammeln, in dessen Herzen wohnt Freude, der auf der Welt nichts vergleichbar ist.

Als er darauf Chitragriva samt seinem Gefolge im Netz gefangen sah, sprach Hiranyaka mit Betrübnis: „Ach! Was ist das?“ Jener antwortete: „Warum fragst du so, da du es ja siehst? Denn es heißt auch: Aus welchem Grund, durch welches Mittel, zu welcher Zeit, auf welche Art, in welcher Gestalt, von welcher Dauer, an welchem Ort Glück oder Unglück man sich zuzieht, aus diesem selben Grund, durch dieses Mittel, zu dieser Zeit, auf diese Art, in dieser Gestalt, in dieser Dauer, an diesem Ort tritt es ein durch die Macht des Verhängnisses. So hat mich diese Gefangenschaft durch der Gier meiner Zunge getroffen. Jetzt befreie du uns ohne Zögern von den Stricken!“

Nachdem er dies gehört hatte, sagte Hiranyaka: „Ach mit Recht sagt man: Anderthalbhundert Meilen weit kann der Vogel einen Köder sehn, aber das Netz dicht zur Seite läßt das Schicksal ihn übersehen. Und so: Sehe ich Sonne und Mond von Rahu gequält, Elefanten, Schlangen und Vögel im Netz oder Verständige in der Armut Not, dann denke ich: Wie mächtig ist das Geschick!? Und so: Die Vögel selbst, die nur in der Luft umherschweifen, geraten in Unglück, und sogar aus dem Meere, dem grundlosen, werden Fische gefangen von Kundigen. Woher kommt ein glücklicher Ausgang bei schlecht angelegtem Plan? Und welchen größeren Vorteil bringt die Wahl der Stellung? ... Das Schicksal allein streckt den Unglücksarm aus und ergreifet sogar aus der Ferne.“

Nachdem er so gesprochen hatte, machte er sich daran, des Chitragriva Schlinge zu lösen. Da sagte Chitragriva: „Nein! Handle ja nicht so! Erst müssen meine Diener aus den Schlingen gelöst werden, hinterher ich.“ Nach diesen Worten sagte Hiranyaka zornig: „Ach! Was du sagst, ziemt sich nicht, denn der Diener folgt dem Herrn nach.“ Jener dagegen: „Lieber! Nein! Sprich nicht so! Ich bin der Zufluchtsort all dieser Armen, sie haben sogar andere verlassen und sind zu mir gekommen. Warum sollte ich ihnen nun nicht eine so geringfügige Ehre erweisen? Es heißt auch: Der König, welcher stets seinen Dienstleuten gebührende Ehre erweist, den verlassen sie aus Freude nie, verliert er auch seine Macht. Und so: Vertrauen ist die Wurzel der Macht, das macht den Elefanten zum Herrn der Herde; und den Löwen meidet trotz seiner Herrschaft alles Wild. Überdies könntest du beim Zerbeißen meiner Schlinge vielleicht die Zähne zerbrechen, oder es könnte auch dieser böse Jäger kommen. Dann würde ich sicherlich in die Hölle geraten. Es heißt auch: Der König, der es sich wohl sein läßt, wenn brave Diener in Not sind, fährt in jener Welt zur Hölle und hat Trübsal in dieser Welt.“

Nachdem er dies gehört hatte, sagte Hiranyaka voll Freude: „Ja! Ich weiß, daß dies die Pflicht des Königs ist, aber ich wollte dich damit auf die Probe stellen. So will ich denn allen die Stricke durchbeißen. Auf diese Weise wirst du wieder von vielen Tauben umgeben sein. Es heißt auch: Wer ihr Gebühr und Mitleid stets seinen Dienern beweist, der Fürst verdient sogar mit der drei Welten Herrschaft beehrt zu sein.“

Nachdem er so geredet und allen die Schlingen gelöst hatte, sagte er zu Chitragriva: „Freund! Gehe jetzt zu deiner Wohnung! Wenn dich wieder ein Unglück trifft, so komme wieder.“ Mit diesen Worten entließ er ihn. Und nachdem er so geredet, verschwand er in seine Festung, und Chitragriva kehrte mit seinem Gefolge zu seiner Wohnung zurück. Sagt man ja doch mit Recht: Wer einen Freund hat, vollendet Dinge, die schwer zu enden sind. Drum soll man sich Freunde erwerben, welche einen lieben, wie sich selbst.

Die Krähe Laghupatanaka aber, als sie sah, wie Chitragriva aus dem Netze befreit ward, dachte mit Verwunderung in ihrem Herzen: „Ach! Diese Weisheit und Stärke des Hiranyaka und diese Vollkommenheit seiner Burg! Dies ist also die Art, wie Vögel aus einem Netz befreit werden können! Auch wenn ich klug und sehr vorsichtig bin und eigentlich niemandem vertraue, will ich ihn mir trotzdem zum Freund machen. Es heißt auch: Kluge erwerben sich Freunde - auch wenn ihnen Reichtum zuteil ward: Der Herr der Ströme (der Ozean), obgleich an Reichtum strotzend, harrt doch des Aufschwungs seines Freunds (des Vollmonds).

Nachdem er so überlegt hatte, flog er vom Baum herab, ging zum Eingang der Höhle und rief, Chitragrivas Stimme nachahmend, den Hiranyaka: „Komm her! Komm her! He! Hiranyaka! Komm her!“ Als Hiranyaka diesen Ruf hörte, überlegte er: „Ist da etwa noch eine Taube, die nicht aus dem Netz befreit ist, daß sie mich ruft?“ Dann sprach er: „He! Wer bist du?“ Die Krähe antwortete: „Ich bin eine Krähe mit Namen Laghupatanaka.“

Nachdem er dies gehört hatte, blieb Hiranyaka nun grade drin und sagte: „Lieber! Mach daß du schnell von diesem Ort verschwindest!“ Die Krähe sprach: „Ich komme zu dir wegen einer wichtigen Angelegenheit. Warum willst du also mit mir keine Zusammenkunft haben?“ Hiranyaka antwortete: „Ich wüßte nicht, wozu ich mit dir zusammenzukommen hätte.“ Die Krähe sagte: „Höre! Da ich sah, wie du Chitragriva aus seinen Banden befreit hast, habe ich eine große Zuneigung zu dir gefaßt. Denn falls ich einmal in ein Netz gerate, kann mir durch dich Befreiung zuteil werden. Drum schließe Freundschaft mit mir!“ Hiranyaka sagte: „Ach! Du frißt mich, und ich diene dir zum Futter. Wie kann da Freundschaft zwischen dir und mir bestehen? Man sagt auch: Nur wo beide gleich an Reichtum und gleich an Art sind, da geziemt sich Ehe oder Freundschaft, doch zwischen Starken und Schwachen nicht. Und so: Wer unverständig aus Torheit einen ungleichen Freund sich wählt, der kleiner oder auch größer ist, macht sich lächerlich vor der Welt. Drum pack dich nur!“

Doch die Krähe sprach: „Wie ich hier bin, setze ich mich nieder vor den Eingang deiner Burg und - schließest du keine Freundschaft mit mir - so werde ich mir vor deinen Augen das Leben nehmen und mich zu Tode hungern.“ Doch Hiranyaka antwortete: „Ach! Wie kann ich mit dir, meinem alten Feind, Freundschaft schließen? Es heißt auch: Mit einem Feind schließe kein Bündnis, wenn er auch noch so freundlich ist. Wasser, wenn es auch ganz heiß ist, löscht dennoch das Feuer aus.“

Die Krähe sagte: „Wir haben uns einander ja noch nicht einmal gesehen, woher sollten wir Feinde sein? Warum sagst du also so Ungereimtes?“ Hiranyaka antwortete: „Es gibt zweierlei Feindschaften: eine angeborene und eine angeeignete. Du hast eine angeborene Feindschaft gegen uns. Denn man sagt auch: Angeeigneter Haß weichet angeeigneter Tugend rasch, doch angeborener Haß hört bis zum Tode niemals auf.“

Die Krähe sagte: „Ich möchte auch die Charakterisierung der zweifachen Feindschaft hören! Sag sie mir!“ Hiranyaka antwortete: „Ach! Die angeeignete Feindschaft hört durch einen Grund auf. So entfernt sie sich durch eine sie aufwiegende Wohltat. Die in der ursprünglichen Natur begründete Feindschaft dagegen verliert sich unter keiner Bedingung. So besteht zum Beispiel eine ewige Feindschaft zwischen den Schlangen und den Mungos, zwischen den grasfressenden und den mit Klauen kämpfenden Tieren, zwischen Wasser und Feuer, zwischen den Göttern und Dämonen, zwischen Hunden und Katzen, zwischen Frauen, welche ein und denselben Mann lieben, zwischen Reichen und Armen, zwischen Löwen und Elefanten, zwischen Jägern und Hirschen, zwischen denen, die den heiligen Vorschriften gemäß, und denen, die lasterhaft leben, zwischen keuschen und unkeuschen Frauen, zwischen Toren und Weisen sowie zwischen Guten und Bösen. Und wenn auch keiner aus irgendeinem Grunde von einem getötet wurde, so verbittern sie sich doch das Leben.“

Die Krähe sagte: „Ach! Das ist Unsinn! Höre meinen Spruch! Aus einem triftigen Grund schließt man Freundschaft, und Feindschaft auch aus einem triftigen Grund. Drum muß auch, wer Verstand hegt, bald Freund bald Feind mit einem sein. Deswegen tritt mit mir in Verbindung und Freundespflicht!“

Hiranyaka sagte: „Was wäre das für eine Verbindung zwischen dir und mir? Hm! Höre die Quintessenz der Lebensklugheit! Wer einem einmal schlecht gefundenen Freund von neuem Vertrauen schenkt, der zieht den Tod sich selber zu, wie ein Maultier, das schwanger wird. Wenn man aber vielleicht denkt „Ich bin gut! Niemand wird seine Feindschaft auf mich ausschütten!“, so ist auch das nicht richtig. Es heißt auch: Dem Panini, dem Verfasser der Grammatik, nahm ein Löwe das teure Leben, den Weisen Jaimini, dem Schöpfer der Mimansa, schlug plötzlich ein Elefant; den Pingala, den Kundigen der Verskunst, tötete am Meeresstrand ein Hai: Was kümmern sich wilde Tiere um Tugend, deren Herz der Unwissenheit Nacht bedeckt?“

Die Krähe sagte: „Das ist wahr! Trotzdem höre: Unter Menschen ist Hilfeleistung der Grund für Freundschaft, bei Wild und Vögeln der Instinkt, bei Toren Furcht und Gewinn - das lehren die Guten. Und so: Gleich einem Tonkrug sind Schlechte leicht zu spalten, zu vereinen aber schwer. Doch einem Goldkrug gleich sind Gute schwer zu spalten, zu vereinen aber leicht. Und ferner: Wie im Zuckerrohr stufenweis nach oben Knoten für Knoten süßerer Saft steigt, so ist auch der Guten Freundschaft immer süßer; der Bösen Freundschaft wird immer bitterer. Und so: Im Anfang groß, dann stufenweis abnehmend, oder gering zuerst und später jedoch anwachsend, so verschieden wie der Morgen- und Abendschatten sind fürwahr! die Freundschaften der Bösen und der Guten. Ich versichere dir, daß ich wahrhaftig gut bin. Sei ohne Furcht, denn ich schwöre darauf jeden Eid.“

Hiranyaka sagte: „Ich traue deinen Eiden nicht, denn es heißt auch: Auf einen Feind ist kein Verlaß, gelobt er Frieden eidlich auch: Wie überliefert, wurde Vritra trotz des Eides von Indra umgebracht (MHB ab 5.9). Und so: Ohne Vertrauen erliegt wahrlich sogar der Feind der Götter nicht; doch weil er vertraute, wurde Ditis Sohn vom Götterherrn zerschmettert. Deshalb sollte ein Weiser selbst dem Vrihaspati nicht wahrhaft vertrauen, der sich Gedeihen wünscht und langes Leben und Genuß. Und so: Selbst durch die allerkleinste Öffnung dringt ein Feind ins Innere und vernichtet dann allmählich wie eine Wasserflut ein Schiff. Und auch: Nichtvertrauten vertrau nimmer, und trau auch den Vertrauten nicht! Gefahr, die durch Vertrauen aufwächst, rottet bis auf die Wurzeln aus. Selbst Schwache, wenn sie nicht vertrauen, werden von Starken nicht besiegt; aber Starke, wenn sie vertrauen, unterliegen selbst Schwachen rasch. Und wiederum: Das „Rechthandeln“ des Chanakya, der „Freunderwerb“ des Shukra und das „Mißtrauen“ des Vrihaspati stehen in der Sammlungen der Lebensweisheiten. (Die Lebensweisheiten der drei großen Lehrer der Menschen, Dämonen und Götter.) Und so: Wer seinem Feind oder einem lieblosen Weib Vertrauen schenkt, und täte er es selbst für viele Schätze, dessen Leben ist damit zu Ende.“

Als Laghupatanaka dieses hörte, war er nicht imstande eine Antwort zu geben und dachte bei sich: „Ach! Was ist das für ein Meister in der Lebensweisheit! Aber grade darum muß er mein Freund werden.“ Dann sagte er: „He! Hiranyaka! Freundschaft, wie die Weisen sagen, entsteht durch sieben Schritte schon. Darum, da du mein Freund geworden, höre was ich dir sagen will! Du kannst in dieser Festung bleiben und doch immer durch Anrede und Gespräch über Gut und Schlecht zu aller Zeit gesellige Unterhaltung mit mir pflegen, wenn du mir sonst nicht traust.“

Nachdem er dies gehört, überlegte auch Hiranyaka: „Dieser Laghupatanaka zeigt sich als ein recht unterrichteter und Wahrheit sprechender Redner. Das ist ein angemessener Grund zur Freundschaft mit ihm. Das wird eine angenehme gesellige Unterhaltung geben!“ Dann sagte er: „Wohlan denn! Wir wollen Freunde sein! Aber du darfst niemals auch nur einen Fuß in meine Festung setzen! Man sagt auch: Zuerst zwar schleichet am Boden, stets fürchtend Schritt vor Schritt der Feind; doch später ohne alle Rücksicht, wie bei Frauen des Liebhabers Hand.“ Als sie dies gehört, sagte die Krähe: „Lieber! Wenn du willst, dann sei es so!“

Von dieser Zeit an lebten alle beide das Vergnügen, eine angenehme Unterhaltung zu genießen. Sie brachten ihre Zeit damit zu, daß sie einander Liebesdienste erwiesen. Laghupatanaka seinerseits trug dem Hiranyaka recht reine Stückchen Fleisch zu; Hiranyaka dagegen gab dem Laghupatanaka ausgewählte Körner und andere Leckerbissen. Das ziemte sich ja auch für alle beide. Man sagt ja: Sie schenkt und läßt sich beschenken, erzählt und fragt nach Geheimnissen, genießt und gewährt Genuß: So sind der Liebe Zeichen sechs. Und so: Keinem und auf keine Weise wird Liebe ohne Dienst zuteil; nur als Lohn der Opfergabe geben die Götter was man wünscht. Und auch: So lange währt in der Welt Liebe, als ein Geschenk gegeben wird; sobald die Milch ausbleibt, verläßt das Kalb sogar die eigene Mutter. Sieh her! Die Herrlichkeit des Gebens! Wie es sogleich Vertrauen erzeugt! Durch seine Macht wird im Umsehen der Feind in den Freund verwandelt! Und so: Ich glaube wahrhaftig, selbst unvernünftigen Geschöpfen sind Gaben viel lieber als ihre eigenen Kinder: Gibt doch die Kuh, wenn sie sogar noch ein Kalb hat, ihre sämtliche Milch, gibt man ihr auch weiter nichts als Ölkuchen (die Reste vom Auspressen des Öls). Doch wozu die Weitläufigkeit! Innige Liebe, so untrennbar wie Fleisch und Nagel, faßten nun Maus und Krähe zueinander und wurden die größten Freunde.

So wurde die Maus von den Gefälligkeiten der Krähe eingenommen und bald so vertraut mit ihr, daß sie mitten zwischen ihren Flügeln sitzend beständig das Vergnügen genoß, sich mit ihr zu unterhalten. Da aber kam eines Tages Laghupatanaka mit Tränen in den Augen und sagte zu ihr: „Ach! Hiranyaka! Ich habe gegen diese Gegend jetzt einen Widerwillen gefaßt. Ich werde deshalb anderswo hingehen.“ Hiranyaka fragte: „Lieber! Was ist die Ursache deines Widerwillens?“ Jener antwortete: „Lieber! Du sollst es hören. In diesem Lande ist durch einen entsetzlichen Regenmangel eine Hungersnot ausgebrochen. Infolge dieser Hungersnot sind die Leute von Hunger gequält. Keiner wirft auch nur den Abfall vom Tisch mehr weg. Außerdem werden von den hungernden Menschen in jedem Haus eine große Anzahl Schlingen gelegt, um Vögel zu fangen. Auch ich war in einer Schlinge gefangen und bin kaum mit dem nackten Leben davongekommen. Das ist der Grund meines Widerwillens.“ Hiranyaka sagte: „Aber wohin willst du denn gehen?“ Jener antwortete: „In Dekkan ist in der Mitte eines dichten Waldes ein großer Teich. Da habe ich einen sehr großen Freund, noch größer als du, eine Schildkröte, mit Namen Mantharaka (die „Langsame“), und diese wird mir Stückchen Fischfleisch geben. Die verzehre ich und verbringe dann die Zeit im Genuß angenehmer Unterhaltung mit ihr. Ich will hier nicht mit ansehen, wie die Vögel in Netzen gefangen und ausgerottet werden. Es heißt auch: Ist ein Land von Dürre geschlagen, und geht die Frucht darin zugrunde, dann sind die glücklich, die des Landes und Stammes Untergang nicht sehen! Und so: Weisheit und Königsherrschaft sind sich nimmer einander gleich: Ein König wird im eigenen Lande, der Weise allerwärts geehrt.“

Hiranyaka sagte: „Wenn dem so ist, so werde auch ich mit dir gehen, denn auch ich habe großes Leid.“ Die Krähe fragte: „Hm! Was hast du für Leid?“ Hiranyaka antwortete: „Ach! Das ist eine lange Geschichte. Was das betrifft, so will ich dir alles ausführlich erzählen, wenn wir dort angekommen sind.“ Die Krähe sagte: „Ich bin aber doch ein Flugtier, und du gehst auf der Erde: Wie kannst du nun mit mir gehen?“ Jener antwortete: „Wenn du den Willen hast, mein Leben zu retten, so kannst du mich dahin bringen, indem du mich deinen Rücken besteigen läßt. Auf andere Weise kann mir nicht geholfen werden.“ Nachdem sie dies gehört, sprach die Krähe voller Freude: „Wenn du so meinst, so bin ich selig, daß ich dort mein Leben auch mit dir werde zubringen können. Ich kenne die mit dem Zusammenflug beginnenden acht Arten des Fluges. Es heißt ja: Zusammenflug und auch Vorflug, großer Flug und auch Niederflug, das Rad, der Querflug und Hochflug, und als achter der leichte Flug (siehe auch MHB 8.41). - Darum besteige meinen Rücken, damit ich dich mit Leichtigkeit zu diesem Teich bringe.“ Darauf stieg Hiranyaka augenblicklich auf ihn. Er aber machte sich mit ihm auf den Weg, indem er nach der Weise flog, welche man „Zusammenflug“ nennt. So bewegte er sich gemach mit ihm vorwärts zu diesem Teich.

Mittlerweile hatte Mantharaka den Laghupatanaka mit der Maus auf dem Rücken schon aus der Ferne erblickt, und indem er dachte „Dies ist eine Zeit und Ort kennende und ganz und gar nicht gewöhnliche Krähe!“, war er schnell ins Wasser gegangen. Laghupatanaka aber, nachdem er den Hiranyaka in die Höhlung eines am Ufer des Teiches stehenden Baums abgesetzt hatte, stieg selbst auf die Spitze eines Zweigs und rief mit durchdringender Stimme: „He Mantharaka! Mantharaka! Komm her! Ich, dein Freund Laghupatanaka, bin nach langer Zeit mit Sehnsucht im Herzen zurückgekehrt. Drum komm und nimm mich in den Arm! Denn es heißt auch: Wozu Sandel mitsamt Kampfer? Wozu kühlender Mondschein? Dies alles wiegt nicht den sechzehnten Teil einer Freundeshand auf. Und so: Wer hat diesen Nektar geschaffen, dies einsilbige Wörtchen «Freund», diesen Beschützer vor Unfällen und Heiltrank gegen des Kummers Qual!?“

Nachdem er dies gehört und ihn recht deutlich erkannt hatte, eilte Mantharaka voller Freude aus dem Wasser und sagte: „Komm herbei! Freund! Komm herbei! Umarme mich! Es ist so lange her, daß ich dich nicht gesehen habe. Darum bin ich ins Wasser gegangen. Es heißt auch: Wessen Kräfte und Abstammung und wes Treiben dir unbekannt, mit solchen habe kein Verständnis, das ist ein Spruch Vrihaspatis.“

Nachdem er so gesprochen, stieg Laghupatanaka vom Baum und umarmte ihn. Heißt es ja doch mit Recht: Wozu noch einen Nektarstrom, um drin zu baden seinen Leib? Den Freund nach langer Zeit umarmen, das ist die unschätzbarste Lust.

So hielten sich nun alle beide voller Freude in den Armen, und unter dem Baume sitzend erzählten sie sich einander, was ihnen alles begegnet war. Auch Hiranyaka, nachdem er dem Mantharaka seine Verehrung bezeigt hatte, ließ sich neben der Krähe nieder. Mantharaka aber, als er ihn erblickte, sagte zu Laghupatanaka: „Wer ist diese Maus? Und warum hast du sie, die doch eigentlich dein Futter ist, auf deinem Rücken hierher geführt? Der Grund dafür muß notwendig ein höchst bedeutender sein.“ Nachdem er dieses gehört hatte, sprach Laghupatanaka: „Ah! Diese Maus ist mein Freund namens Hiranyaka, gewissermaßen mein zweites Leben. Mit einem Wort: Gleichwie die Tropfen des Regengottes, gleichwie die Sterne am Himmelszelt, gleichwie die Sandkörner am Meer für jede Zählung unfähig sind, so sind auch dieses Großherzigen Tugenden jeder Zählung bar. Aber in größte Verzweiflung versunken kommt er her zu dir.“

Mantharaka sagte: „Was ist der Grund seiner Verzweiflung? “ Die Krähe antwortete: „Auch ich habe ihn schon dort gefragt, er entgegnete aber: «Das ist eine lange Geschichte, wenn wir dort sind, will ich sie dir erzählen.» So ist es auch mir unbekannt. Drum lieber Hiranyaka erzähle jetzt uns beiden zusammen diese Ursache deiner Verzweiflung!“ Und Hiranyaka erzählte:


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