Pushpak Panchatantra Buch 1Zurück WeiterNews

20. Erzählung - Ein alter Schwan rettet eine gefangene Schwäneschar

In einer gewissen Waldgegend war ein Feigenbaum namens Mahasakha (“große Zweige“), darauf wohnte eine Schar Schwäne. Unter diesem Feigenbaum aber erschien ein Schlinggewächs mit Namen Kausakhi („schlechte Zweige“). Darauf sagte der alte Schwan: „Das Schlinggewächs, welches an diesem Baum heranwächst, ist für uns sehr gefährlich. Mit Hilfe desselben kann einer einmal heraufsteigen und uns umbringen. Schaffet dies Schlinggewächs weg, so lange es noch mit Leichtigkeit zu zerstören ist!“ Sie aber ließen seine Rede unbeachtet und zerstörten das Schlinggewächs nicht. So wuchs denn das Schlinggewächs im Fortgang der Zeit an dem Baum hinauf. Als die Schwäne nun einst ausgeflogen waren, um sich Futter zu suchen, stieg ein Vogelsteller, das Schlinggewächs als Leiter benutzend, auf den Feigenbaum, legte Fallen in die Nester der Schwäne und kehrte dann nach Hause zurück. Als aber die Schwäne ihren Ausflug nach Futter vollendet hatten und in der Nacht zurückkehrten, da wurden sie alle in den Schlingen gefangen. Da sprach der alte Schwan: „Diese unglückliche Gefangenschaft in den Netzen ist uns zugestoßen, weil ihr gehandelt habt, ohne auf meine Rede zu achten. So sind wir nun alle verloren!“ Darauf sagten die Schwäne zu ihm: „Ehrwürdiger! Was ist unter diesen Umständen zu tun?“ Er aber sprach: „Wenn ihr mir diesmal folgen wollt, so stellt euch, wenn der Vogelsteller kommt, als wäret ihr tot. Wenn aber dann der Vogelsteller, indem er denkt „Sie sind schon tot!“ euch alle zusammen auf die Erde wirft, so müssen alle zusammen, nachdem sie hingeworfen sind, nachher in einem und demselben Augenblick in die Höhe fliegen.“

Nachdem nun der Morgen angebrochen war, kam der Vogelsteller, und wie er nachsieht, sind sie alle zusammen tot. Darauf löste er sie alle unbesorgten Sinnes der Reihe nach aus dem Netz und warf sie auf die Erde. Wie sie ihn nun mit Herabklettern beschäftigt sahen, flogen sie, dem vom alten Schwan gegebenen Rat gemäß, alle zusammen in einem und demselben Augenblick in die Höhe. - Daher sage ich: Man soll der Alten Wort hören, Vielerfahrene sind wahrhaft alt; und des Alten Witz befreit eine im Wald gefangene Schwäneschar.“

Und nachdem diese Geschichte erzählt war, gingen alle diese Vögel zu dem alten Schwan und taten ihm den Schmerz über den Raub der Jungen kund. Darauf sprach der alte Schwan: „Der Schwache, der vor Stolz töricht einen übergewaltigen Feind bekämpft, der kehrt zurück wie ein Elefant mit zerbrochenem Zahn. Unser aller Vögel König ist der große Garuda. Laßt uns ihm nun diese ganze verächtliche Behandlung kundtun, damit er erzürnt über die Verachtung seines Geschlechts in Kummer gerate, oder vielleicht auch seinen Stolz zeige. Aber auch das schadet nichts. Denn man sagt auch: Wer einem unzweideutigen Freund, einem tugendhaften Knecht, einer treuergebenen Gattin oder einem wohlgesinnten Herrn seinen Kummer klagt, wird froh.“

Nachdem so geschehen, gingen alle diese Vögel mit betrübtem Gesicht, die Augen voll Tränen und mit jämmerlichem Geschrei zum Vogel Garuda und fingen an zu zürnen: „Ach, diese Gottlosigkeit! Diese Gottlosigkeit! Während du unser Gebieter bist, sind vom Meer diesem redlichen Strandläufer seine Eier geraubt worden. So ist es denn jetzt aus mit dem Geschlecht der Vögel! Auch alle anderen werden uns wie das Meer vernichten, sobald sie Lust haben. Man sagt auch: So wie er es von dem einen sieht, so tut auch der andere Böses: Die Welt tut nach, was einer vortut; nie schert sie sich um das was recht ist. Und so: Gegen Betrüger, Nichtswürdige, Diebe, Mörder und ähnliche muß man die Untergebenen schützen, sowie gegen in Trug sich Hüllende. Und ferner: Wer seine Untertanen schützt, gewinnt ihrer Tugend sechsten Teil. Wenn er sie aber nicht schützt, trägt er ein Sechstel ihrer Schuld. Aus des Untertans Leidflammen erhebt sich der Feuergott und ruht nicht eher, bis er gänzlich des Königs Glück und Haus und Leib verbrannt hat. Der König ist Auge den Augenlosen und Blutsfreund den Freundelosen, der König ist Vater und Mutter allen rechtschaffen Wandelnden. Ein König, der nach Frucht strebt, pflege die Welten eifrig mit Spende und Ehre, wie die Gärtner ihre Schößlinge mit Wasser. Gleichwie ein zarter Baumschößling, wenn er mit Sorgfalt gepflegt wird, Früchte zu seiner Zeit spendet, so auch die Welt, wenn sie gut regiert wird. Gold, Getreide und Juwelen, Roß und Wagen mancher Art und so auch, was sie sonst haben, kommt den Königen vom Untertan.“

Nachdem aber Garuda dieses gehört hatte, fühlte er Mitleid mit dem Schmerz der Strandläufer, wurde von Zorn ergriffen und dachte: „Ha! Was diese Vögel sagen, ist wahr! So laßt uns denn sogleich gehen und das Meer austrocknen!“ Doch während er so dachte, kam der Bote des Vishnu zu ihm und sagte: „He, Garuda! Der erhabene Narayana schickt mich zu dir. Der Erhabene will nach Amaravati gehen, um die Angelegenheiten der Götter zu besorgen. Deshalb komm eilig zu ihm!“ Nachdem er dies gehört, sagte Garuda voll Empfindlichkeit zu ihm: „Ach, Bote! Wie kann ich, ein verächtlicher Knecht, dem Erhabenen dienen? Geh deshalb und sprich zu ihm: «Es möge ein anderer Diener statt meiner zu seinem Träger gemacht werden.» Ich lasse mich dem Erhabenen empfehlen.“ Der Bote sagte: „Oh Sproß der Vinata! Noch niemals hast du etwas Derartiges zu dem Erhabenen gesagt. Sag an! Hat dich der Erhabene etwa geringschätzig behandelt?“ Da antwortete Garuda: „Von dem Meer, welches des Erhabenen Ruhestätte bildet, sind meinem Diener, dem Strandläufer, seine Eier geraubt worden. Wenn er dieses nun nicht bestraft, so bin ich nicht länger des Erhabenen Diener. Diesen meinen Entschluß mögest du vermelden. Darum gehe so rasch als möglich hin zu dem Erhabenen!“

Als der Erhabene darauf aus dem Munde seines Boten erfuhr, daß der Sproß der Vinata aus Liebe erzürnt sei, so dachte er: „Der Zorn des Garuda ist gerecht. Deswegen will ich selbst gehen, ihn unter Achtungserweisung ermahnen und ihn holen. Man sagt auch: Einen guten und starken Diener von hohem Haus verachte nicht! Wie einen Sohn sollst du ihn lieben, wünschst du dir selber Wohlergehen. Und ferner: Der Fürst, der mit den Dienern zufrieden ist, gibt ihnen Ehre allein zum Lohn. Sie aber bringen für bloße Ehre selbst ihr Leben zum Danke dar.“

Nachdem er diese Betrachtung angestellt hatte, ging er eilig nach Rukmapura („Goldstadt“) zum Sproß der Vinata. Dieser aber, da er den Erhabenen zu seinem Hause kommen sah, senkte vor Scham das Gesicht zu Boden, verbeugte sich und sagte: Oh Erhabener! Siehe: Das Meer, welches übermütig ist, weil es deine Ruhestätte bildet, hat meinem Diener seine Eier geraubt und mich damit geringschätzig behandelt. Aus Scheu vor dem Erhabenen habe ich gezögert, sonst würde ich es noch heute austrocknen. Denn man sagt auch: Eine Handlung, die des Gebieters Herz beleidigt oder quält, die tun treue Dienstleute nie und ging es auch ans Leben.“

Nachdem er dies gehört, sagte der Erhabene: „Oh Sohn der Vinata! Was du gesagt hast, ist wahr. Denn man sagt auch: Strafe, die eines Knechts Fehler hervorruft, trifft zugleich den Herrn; denn die Schande, die sie bringet, fällt mehr auf ihn als auf den Knecht. Darum komm, damit wir dem Meer die Eier wieder abnehmen, sie dem Strandläufer bringen und dann nach Amaravati gehen!“

Nachdem so geschehen, sprach er, den feurigen Pfeil auf den Bogen legend, drohend zum Meere: „Ha, du Bösewicht! Gib dem Strandläufer seine Eier heraus! Wo nicht, so trockne ich dich aus.“ Darauf geriet das Meer in Furcht und gab dem Strandläufer seine Eier zurück. Dieser aber händigte sie seinem Weibchen aus. - Daher sage ich: Wer nicht des Feindes Kraft kennt und dennoch den Kampf mit ihm beginnt, der wird gedemütigt, wie der Ozean vom Strandläufer.“

Nachdem Sanjivaka dieses gehört hatte, fragte er ihn weiter: „Höre Freund! Woran kann ich erkennen, daß der Löwe böse Gesinnungen gegen mich hegt? So lange Zeit bin ich von ihm stets mit zunehmender Liebe und Gunst behandelt worden und habe niemals eine Änderung an ihm erblickt. Drum sag es, damit ich meiner eigenen Rettung wegen mich erhebe, um ihn zu töten.“

Damanaka antwortete: „Lieber! Was ist da zu erkennen? Folgendes wird dich überzeugen: Wenn, sobald er dich erblickt, seine Augen sich röten, er die Augenbrauen zusammenzieht, so daß sie einen Dreizack bilden, und seine Mundwinkel mit der Zunge beleckt, dann ist er bösgesinnt, sonst ist er gnädig. Jetzt entlaß mich, ich gehe nach meinem Hause zurück. Du trag Sorge, daß der Beschluß nicht verraten wird! Wenn du, sobald es Nacht wird, gehen kannst, so solltest du das Land verlassen. Ansonsten mußt du dich durch Schmeicheln, Verrat, Bestechung, Gewalt oder anderes retten. Denn man sagt auch: Sogar durch Weib und Kind schützt sein Leben der Verständige: Bleibt ihm nur das Leben, so fällt ihm alles andere wieder zu. Und so: Durch jedes mögliche Mittel, sei es recht oder ungerecht, rette der Schwache sein Leben! Der Starke wandle nach dem Recht. Wer betört zwischen Leben- und Geldverlust hin- und herschwankt, dem kommt das Leben abhanden, und mit dem ist auch jenes hin.“

Nachdem er so gesprochen, ging Damanaka zu Karataka. Karataka aber, als er ihn erblickt hatte fragte: „Lieber! Was hast du durch deinen Weg dahin ausgerichtet?“ Damanaka antwortete: „Ich habe fürs erste nur den Samen zur Intrige ausgesät. Das Weitre hängt nun vom Gang des Schicksals ab. Man sagt auch: Selbst wenn das Schicksal ungünstig ist, erfülle der Weise seine Pflicht, damit er frei von Schuld bleibe und seinen Geist kräftig halte.“

Karataka sagte: „So sage denn, was für einen Samen der Intrige du ausgesät hast?“ Jener antwortete: „Ich habe durch lügnerische Reden zwischen beiden solches Mißtrauen gegeneinander erweckt, daß du sie nie mehr an einer Stelle stehend miteinander ratschlagen sehen wirst.“

Karataka sagte: „Ach! Du hast nicht recht getan, daß du diese beiden, deren Herz in wechselseitiger Liebe schwamm, und die in Freude hausten, in das Meer des Zorns geschleudert hast. Man sagt auch: Wer einen glücklichen Harmlosen in die Straße des Unglücks treibt, der wird in allen Wiedergeburten unzweifelhaft unglücklich sein. Ferner ist es auch nicht recht, daß du nur an Zwietracht Vergnügen findest. Denn Böses zu tun, ist jedermann fähig, nicht aber Gutes. Man sagt auch: Der Neider kann eines anderen Werk verderben, aber fördern kann er es nicht: Auch der Sturm kann den Baum fällen, doch ihn aufrichten nimmermehr.“

Doch Damanaka sagte: „Ach! Du kennst die Gebote der Lebensklugheit nicht, darum sprichst du so. Es heißt auch: Wer sein Wohl wünscht, soll nie den Feind übersehen, der sich erheben will. Denn wie die Weisen es gelehrt haben, sind Feind und Krankheit von gleicher Art. Jener ist nun unser Feind, da er uns unsere Ministerstelle geraubt hat. Es heißt auch: Wer eines anderen erbliche Stellung ihm abgewinnen will, ist sein natürlicher Gegner. Man rotte ihn aus, auch wenn man ihn liebt. Seit er von mir aus Unbedachtsamkeit vermittelst des Versprechens der Sicherheit herbeigeführt wurde, bin ich durch ihn aus meiner Ministerstellung verdrängt worden. Sagt man ja doch mit Recht: Wenn der Gute dem Bösewicht Eingang in sein Gebiet erlaubt, dann ist dieser, sobald er will, mächtig zu jenes Untergang. Darum gestatte der Verständige niemals dem Gemeinen Raum: Hier gilt wie es im Sprichwort heißt: «Der Ehebrecher wird Hausherr selbst.» Deswegen habe ich dieses eingefädelt, um ihn zu verderben, damit er das Land verläßt oder umkommt. Und dieses soll niemand außer dir erfahren! So wurde dieses von mir mit Recht zum eignen Vorteil unternommen. Denn es heißt auch: Mache das Herz erbarmungslos, die Stimme aber wie Zucker süß, laß jeglichen Zweifel fahren und töte, wer dir Böses tut.

Außerdem wird dieser Sanjivaka, sobald er getötet ist, uns auch zum Essen dienen. Das ist zunächst ein Vorteil der Feindschaft. Alsdann wird uns auch das Ministerium und Wohlsein zuteil. Da uns nun dieses dreifache Gut bevorsteht, wie kannst du mir Dummheit vorwerfen? Denn man sagt auch: Der Weise wäre unsinnig, welcher nicht wie Chaturaka schmauste, wenn er dem Feind Leiden, sich selber aber Vorteil schaffen kann.“

Da fragte Karataka „Wie war das?“, und jener erzählte:

21. Erzählung - Der listige Schakal

In einer gewissen Waldgegend wohnte einmal ein Löwe namens Vajradanshtra („Zähne wie Diamant“). Dieser hatte zwei Diener, welche ihn stets begleiteten und mit ihm in diesem Walde wohnten, einen Schakal Chaturaka („verschlagen“) und einen Wolf, Kravyamukha („Fleischmaul“) mit Namen. Eines Tages aber begegnete der Löwe einmal einem weiblichen Kamel, welches dem Gebären nah durch seine Geburtswehen von der Herde abgekommen war und sich im Walde niedergesetzt hatte. Nachdem er es nun getötet und ihm den Bauch aufgerissen hatte, kam ein lebendiges kleines Kameljunges heraus. Der Löwe sättigte sich vollständig an dem Fleisch des Kamelweibchens.

Das junge verlassene Kamelchen aber führte er aus Mitleid nach seinem Hause und sprach zu ihm: „Mein Liebes! Weder von mir noch von einem anderen hast du den Tod zu befürchten, drum schweife nach deinem Belieben in diesem Wald mit Chaturaka und Kravyamukha vergnügt umher! Da deine Ohren wie ein Spieß aussehen, so sollst du den Namen Sankukarna („Ohren wie Spieße“) führen.“

Nachdem so geschehen, brachten alle vier ihre Zeit damit zu, daß sie an einem und demselben Ort spazierengingen und das Vergnügen der mannigfachsten Unterhaltung miteinander genossen. Sankukarna aber, nachdem er zum Jünglingsalter herangewachsen war, verließ den Löwen auch nicht einen Augenblick. Da hatte nun der Löwe einst einen Kampf mit einem wütenden Elefanten zu bestehen. Durch diesen wurde er infolge der Kraft seiner Wut durch Stöße mit dem Stoßzahn am Körper so sehr verwundet, daß wenig fehlte, daß er das Unglück gehabt hätte, getötet zu werden. Als er sich darauf mit seinem von Stößen entkräfteten Körper nicht rühren konnte, da sprach er mit von Hunger abgezehrter Kehle: „Ach! Sucht irgendein Tier, damit ich, obgleich ich mich in diesem Zustand befinde, es töte und von mir und euch den Hunger abwende.“

Nachdem sie dies gehört, irrten sie alle drei im Wald bis zur Dämmerung umher, trafen aber gar kein Tier an. Da dachte der Schakal Chaturaka: „Wenn dieses Kamel Sankukarna umgebracht wird, dann haben alle auf einige Tage Nahrung. Aber der Herr wird ihn aus Freundschaft und weil er sein Schützling ist, nicht umbringen. Ich werde jedoch durch die Macht meiner Klugheit des Herrn Gedanken lenken, und bewirken, daß er ihn tötet. Denn es heißt auch: Nichts gibt es in der Welt, das nicht vernichtbar, erreichbar und ausführbar für den Verstand Verstandvoller ist; darum strenge man diesen an!“

Nachdem er so überlegt hatte, sagte er zum Kamel Folgendes: „He! Sankukarna! Der Herr wird, wenn er keine nahrhafte Speise erhält, doch gewaltig von Hunger gepeinigt. Wenn der Herr weg ist, so trifft auch uns selbst Verderben. Darum will ich um des Herrn willen ein Wörtchen sprechen. Hör an!“ Und das Kamel sagte: „Oh Lieber! Tu es mir so schnell als möglich kund, damit ich, ohne mich zu besinnen, dein Geheiß ausführe. Wenn ich dem Herrn etwas Gutes erweise, so habe ich ja hundert gute Werke damit verrichtet.“ Da sprach der Schakal: „Strecke dem Herrn deinen Körper vor, unter der Bedingung, ihn doppelt zurückzuerhalten, so daß dir ein doppelter Leib zuteil wird, der Herr aber ein Mittel gewinnt, sein Leben zu erhalten.“

Nachdem es dies gehört, sagte das Kamel: „Lieber! Wenn du so meinst, so ist dies ja gerade mein Vorteil. Man sage also dem Herrn, daß ebendieses getan werden möge. Doch muß ich in dieser Sache Dharma, den Gott der Gerechtigkeit, als Bürgen fordern.“

Nachdem dieser Beschluß gefaßt war, gingen sie alle zusammen zum Löwen. Darauf sagte der Schakal: „Majestät! Kein einziges Tier ist heute gefangen worden, und die erhabene Sonne ist bereits untergegangen. Wenn du jedoch des Sankukarna Leib verdoppelt zurückzahlen willst und den Gott der Gerechtigkeit zum Bürgen gibst, so überliefert er dir denselben.“ Der Löwe sagte: „Wenn dem so ist, so ist das sehr schön. Der Gott der Gerechtigkeit soll zum Bürgen dieses Handels gemacht werden.“

Darauf wurde unmittelbar nach des Löwen Rede dem Kamel vom Wolf und Schakal der Bauch aufgerissen, so daß er starb. Alsdann sprach der Löwe zum Schakal: „Hör Chaturaka! Halte sorgfältig hier Wacht, bis ich, nachdem ich zum Fluß gegangen bin, gebadet habe und nach Verrichtung meiner Andacht zurückkehre.“ Nachdem er so gesprochen, ging er zum Fluß. Als er nun weg war, dachte Chaturaka: „Wie kann ich es machen, daß ich dieses Kamel allein zu essen bekomme?“ Nachdem er so überlegt, sprach er zum Wolf: „Hör! Du bist hungrig, drum iß, solang der Herr noch nicht zurückkehrt, vom Fleisch dieses Kamels. Ich werde dich vor dem Herrn für unschuldig erklären.“ Als jener aber, nachdem er dies gehört, kaum ein bißchen Fleisch gekostet hatte, rief ihm Chaturaka zu: „He! He! Kravyamukha! Der Herr kommt zurück! Laß also ab davon und stelle dich weit weg, damit er nicht merkt, daß davon gegessen wurde.“

Nachdem so geschehen war, kam der Löwe herbei. Wie er das Kamel sieht, so war das Herz desselben weg. Da zog er die Augenbrauen zusammen und sagte mit großer Heftigkeit: „Ha! Wer hat gemacht, daß das Kamel zu einem Überbleibsel geworden ist? Sag an, damit ich auch den umbringe.“ Nachdem dies gesagt war, blickte Kravyamukha nach Chaturakas Mund, er wollte damit natürlich sagen: „Sprich doch etwas, damit ich gerettet werde!“ Der Schakal aber sagte spottend: „He! Nachdem du vor meinen Augen das Herz des Kamels gefressen hast, siehst du jetzt nach meinem Mund. So koste denn die Frucht des Baums deines schlechten Benehmens!“ Nachdem er dies gehört, ging Kravyamukha aus Furcht um sein Leben nach einem anderen Land, um niemals wieder zurückzukehren; der Löwe aber blieb da.

Mittlerweile kam durch des Schicksals Fügung auf ebendiesem Wege eine große mit Lasten beladene Kamelkarawane. Am Hals des an der Spitze gehenden Kameles war eine große Glocke befestigt. Deren Ton hörte der Löwe schon aus der Ferne und sprach zu Chaturaka: „Lieber! Sieh doch nach, warum sich dieser schreckliche, nie vorher gehörte Ton hören läßt!“ Nachdem er dies gehört, ging der Schakal ein wenig in das Innere des Waldes, kam dann eilig zurück und sagte voll Furcht: „Herr! Mach dich fort! Mach dich fort, wenn du gehen kannst!“ Dieser sprach: „Lieber! Warum erschreckst du mich so? Sprich doch, was ist es?“ Chaturaka sagte: „Oh Herr! Es ist der König der Gerechtigkeit, welcher gegen dich erzürnt ist. Er sagt natürlich: «Mein Kamel ist von ihm, nachdem er mich zum Bürgen gegeben hat, vor der ihm bestimmten Zeit umgebracht! Darum will ich mein Kamel tausendfältig von ihm nehmen.» Nachdem er dies beschlossen, hat er einen großen Kamelschmuck genommen und an den Hals des an der Spitze gehenden Kamels befestigt und kommt nun zugleich mit dem Vater und den Ahnen, welche zu dem getöteten Kamel gehören, um Wiedervergeltung zu üben.“ Der Löwe aber, da er dies alles aus der Ferne erblickte, ließ das tote Kamel im Stich und machte sich aus Furcht für sein Leben auf und davon. Chaturaka aber fraß in aller Muße das Fleisch des Kamels auf. - Darum sage ich: Der Weise wäre unsinnig, welcher nicht, wie Chaturaka schmauste, wenn er dem Feind Leiden, sich selber aber Vorteil verschaffen kann. (Diese Fabel erinnert auch an MHB 1.142.)

Als aber Damanaka (der ehrgeizige Schakal) weggegangen war, überlegte der Stier Sanjivaka: „Was habe ich getan?! Ich, ein grasfressendes Geschöpf, habe Freundschaft mit einem fleischfressenden geschlossen?! Sagt man denn nicht mit Recht: Der naht sich Unnahbarem, der nicht zu Ehrende verehrt! Er zieht sich den Tod selber zu, wie ein Maultier, das schwanger wird. - Was soll ich nun tun? Wohin soll ich gehen? Wie kann ich mich retten? Oder sollte ich wohl zum Löwenkönig Pingalaka selbst gehen? Vielleicht verschont er mich, wenn ich mich in seinen Schutz begebe, und raubt mir nicht das Leben...? Denn man sagt auch: Wenn denen selbst, die redlich streben, des Schicksals Fügung irgendein Unglück schickt, dann sollen Weise, dieses zu beenden, mit ganz besonderer Einsicht handeln. Denn in der ganzen Welt gilt dieses Sprichwort: Dem Feuergebrannten ist ein Tropfen Feuer ein Mittel, das Hilfe bringt. Und so: Trifft doch in der Welt - und daran gibt es keinen Grund zu zweifeln - die das Beste tuenden Geschöpfe - welche stets erlangen, was aus den eigenen Taten reift - Glück und Unglück, wie es sie von selbst treffen muß, weil sie es in einem früheren Leib erworben haben. Wenn ich also auch wo anders hingehe, wird mir doch der Tod durch ein böses fleischfressendes Tier zuteil werden. Darum ist es besser, es geschieht durch den Löwen. Es heißt auch: Wenn einer mit Gewaltigen kämpft, ist selbst sein Unglück ehrenvoll: Preiswürdig ist des Elefanten Zahnbruch, wenn er den Berg zerriß. Und so: Durch Mächtige Untergang leidend, gelangt selbst der Niedere zu Ruhm, wie die Biene, die gierig nach dem Brunstsaft durch den Schlag des Elefantenohres stirbt.“

Nachdem er sich so entschlossen hatte, machte er sich schwankenden Ganges Schritt vor Schritt auf den Weg, und als er des Löwen Wohnung sah, sprach er: „Ach! Mit Recht sagt man auch Folgendes: Wie in ein Haus, in welchem Schlangen nisten, wie in einen Wald, der von Raubtieren angefüllt ist, wie in einen schönen, lotusschattenreichen, doch untiervollen See, so taucht man in eines Königs Palast, der von vielen Bösen, Lügnerischen, Gemeinen und Unwürdigen strotzt, wie in einen Ozean voll Furcht und Sorgen.“

Indem er so sprach, sah er den Pingalaka in der von Damanaka beschriebenen Gestalt: erschrocken und seinen Körper deckend, setzte er sich so fern als möglich nieder, ohne seine Verehrung zu bezeigen. Pingalaka andrerseits, da er die ihm von Damanaka vorausgesagte Haltung erblickte, stürzte sich voll Zorn auf ihn. Sanjivaka jedoch, dessen Leib von Pingalakas scharfen Klauen zerrissen wurde, riß diesem mit seinem Rücken und seinen Hörnern den Bauch auf und machte sich mit Mühe von ihm los. Dann stellte er sich nochmals zum Kampf und suchte ihn mit seinen Hörnern zu töten.

Als nun Karataka diese beiden Blutbefleckten sah, die wie rotblühende Büsche erschienen, einer nach des anderen Mord begierig, da sprach er vorwurfsvoll zu Damanaka: „Ach! Du Törichter! Daß du Feindschaft zwischen beide gesät hast, das war nicht gut getan! Denn durch dich ist nun dieser ganze Wald in Schrecken gesetzt. So kennst du die wahre Lebensweisheit nicht. Die der Lebensweisheit Kundigen haben gesagt: Diejenigen, welche die Taten, die mit der allerhöchsten Strenge gestraft zu werden verdienten und mit Mühe zum Heil gewendet werden können, durch Liebe und Freundlichkeit ausgleichen, die sind wahrhaftige Räte und der Lebensweisheit kundig. Die aber, welche wider die Ordnung, unbedeutende und geringe Strafe verdienende Taten mit den schwersten Strafen verfolgen, durch deren unpolitisches Benehmen wird des Königs Wohl aufs Spiel gesetzt. Wenn nun der Herr verletzt wird, wie steht's dann mit der Weisheit deines Rats? Oder Sanjivaka wird nicht getötet... Auch das darf nicht geschehen; da diese Lebensgefahr des Herrn seinen Tod zur Folge haben muß. Drum, du Tor! Wie kannst du die Stelle eines Ministers begehren? Du verstehst nicht die Kunst, etwas friedlich zum Ziel zu führen. Drum ist dieser Wunsch von dir, der du harte Strafen liebst, höchst eitel. Es heißt auch nach Gottes Wort: Sanftmut ist der Klugheit Anfang, und Strafe ist ihr Ende; denn Strafe ist das Schlimmste von allen; drum vermeide, sie zu verhängen! Und so: Da, wo Sanftmut zum Ziel führt, da braucht der Weise keine Strafe. Wenn die Gelbsucht durch Zucker geheilt wird, wozu bedarf es Gift? Und so: Ein Werk wird von den Werkkundigen zuerst mit Sanftmut angefaßt; denn sanft vollzogene Anordnung führt nimmer zu Mißgeschick. Und ferner: Weder durch Zaubermittel noch durch Mond, Sonne oder Feuer - nur durch Sanftmut wird die durch Feinde entstandene Finsternis vernichtet.

Wenn du also nach der Stelle des Ministers begehrst, so ist das unangemessen, da du nicht weißt, was ein Minister zu tun hat. Denn fünffacher Art ist die Kunst des Rats, nämlich Mittel und Geschäfte zu beginnen; Erwerbung menschlicher Güter; richtige Einteilung von Ort und Zeit; Vorbeugen gegen Unglücksfälle und Erreichung des Bezweckten. Jetzt tritt hier notwendig ein Unglück des Herrn oder des Ministers, oder auch aller beider ein. Wenn du also irgendetwas vermagst, so denke an ein Mittel, diesem Unglück vorzubeugen. Denn wo Zwieträchtiges zu versöhnen ist, da erprobt sich die Weisheit der Räte. Aber das zu tun, du Unwissender! bist du nicht fähig, weil dein Verstand ein verkehrter ist. Es heißt auch: Der Schlechte kann das Werk anderer zerstören, doch fördern kann er es nicht: Wohl kann die Maus den Speisekorb umwerfen, doch aufheben kann sie ihn nicht.

Doch ist dies vielleicht nicht deine Schuld, sondern die des Herrn, welcher dir Schwachsinnigem Glauben schenkt. Es heißt auch: Die Königsschar, welche gemeinen Leuten folgt, und den Pfad nicht geht, welchen der Weise ihnen zeigt, verstrickt sich mit ihren Geschäften in einen Sack, der rings umschränkt, nur schwierigen Weg zur Rückkehr bietet. Wenn du also sein Minister werden wirst, so wird kein einziger anderer braver Mann in seine Nähe gelangen können. Es heißt auch: Keiner kommt je selbst zum besten der Fürsten, der schlechte Räte hat, gleichwie zum See voll Krokodile, wäre auch sein Wasser süß und schön. Und so wird ein König, der nicht von Weisen umgeben ist, zugrunde gehen. Es heißt auch: Wenn Fürsten Dienern Gunst schenken, die zwar schöne Reden führen, aber im Handeln leichtsinnig sind, wird ihre Macht der Feinde Spott. - Durch Valabhadras („durch Stärke glücklich“) Rat wurde der nackte Bettelmönch verbrannt. So gewann er des Königs Gunst zurück und sich selbst noch Ehre.“

Da fragte Damanaka „Wie war das?“, und Karataka erzählte:


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