Pushpak Mahabharata Buch 8Zurück WeiterNews

Kapitel 69 – Arjunas Zorn und Krishnas Belehrung

Sanjaya fuhr fort:
Bei diesen Worten Yudhishthiras erhob sich auch in Arjuna der Zorn, und er zog sein Schwert, den Bruder zu erschlagen. Doch Krishna, der alles darüber wußte, wie das menschliche Herz sich regt, sprach zu ihm:
Oh Arjuna, warum hast du dein Schwert gezückt? Ich sehe niemanden hier, mit dem du kämpfen solltest. Die Söhne Dhritarashtras werden vom klugen Bhima bekämpft. Du hast die Schlacht verlassen, um den König zu sehen. Nun hast du ihn gesehen, und er ist wohlauf. Warum also solche Torheit in einem Moment, der dich erfreuen sollte? Ich sehe hier keinen Menschen, oh Arjuna, den du töten solltest. Warum holst du zum Schlag aus? Was hat deinen Geist verdunkelt? Was ließ dich so schnell dein Schwert ergreifen? Ich frage dich, oh Sohn der Kunti. Was hast du vor, da du mit unbegreiflicher Energie und voller Wut die Waffe packst?

Arjuna starrte Yudhishthira an und atmete schwer, als er Krishna antwortete:
Ich habe einst im Geheimen geschworen, daß ich dem Mann den Kopf abschlage, der mir sagen würde: „Gib Gandiva einem anderen!“ Doch genau das waren die Worte des Königs, du hast es gehört, oh unermeßlich mächtiger Krishna. Ich kann dies nicht vergeben. Ich werde diesen König schlagen, der selbst die kleinste Abweichung von der Tugend scheut. Und indem ich diesen Besten aller Männer töte, bewahre ich meinen Eid. Deshalb habe ich das Schwert gezogen, oh Entzücken der Yadus. Der Tod meines Bruders bezahlt meine Schuld an die Wahrhaftigkeit. Und es wird mein Fieber und meinen Kummer besänftigen, oh Krishna. Doch ich frage dich, was ist unter diesen Umständen zu tun? Du, oh Herr, kennst die gesamte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dieses Universums. Ich werde tun, was du mir gebietest.

Und Krishna sprach:
Pfui, pfui! Nun weiß ich, daß du die Älteren nicht achtest, weil du dich in einem unpassenden Moment dem Zorn ergibst, oh Tiger unter den Männern. Niemand, der um Moral weiß, würde so handeln, wie du Unwissender es eben tust. Und es ist der übelste Mann, oh Arjuna, der scheinbar richtige Taten begeht, die man doch nicht begehen sollte und welche die Schriften verdammen. Du hast also nicht die Schlüsse der Gelehrten verstanden, die ihren Schülern ihre Meinungen über Tugend und Moral erklären. Doch wer diese Schlußfolgerungen nicht versteht, ist verwirrt und verdammt, wie du gerade verwirrt bist, weil du nicht unterscheiden kannst zwischen dem, was du tun solltest und was nicht. Es ist nicht einfach. Doch alles kann mithilfe der Schriften erklärt werden. Du meinst zwar, moralisch zu sein und moralisch zu handeln, und doch wirst du von Unwissenheit geleitet. Du meinst zwar, um die Tugend zu wissen, doch du vergißt, oh Arjuna, daß das Schlachten eines lebenden Wesens Sünde ist. Lebewesen nicht zu verletzen, ist die höchste Tugend. Vielleicht kann man lügen, aber töten sollte man niemals. Wie kannst du dann nur wie ein Narr daran denken, deinen älteren Bruder zu töten, den König, der alles über Tugend und Gerechtigkeit (Dharma) weiß? Wer einen Menschen tötet, der nicht kämpft, oder einen Feind, welcher der Schlacht den Rücken gekehrt hat oder flieht, der mit gefalteten Händen Zuflucht erfleht oder unachtsam ist – der wird nie von den Gerechten gelobt. All dies trifft auf deinen älteren Bruder zu. Den Eid, oh Arjuna, hast du aus Torheit geschworen. Und mit derselben Torheit willst du ihm nun folgen und eine sündige Tat begehen. Warum erhebst du die Hand gegen deinen geliebten und verehrten älteren Bruder? Bedenke zuerst die außerordentlich subtilen Wege der Moral, die nun einmal schwer zu verstehen sind.

Ich erkläre dir jetzt dieses Mysterium, welches schon Bhishma kundtat, der gerechte Yudhishthira, auch Vidura und die gefeierte Kunti. Mit allen Einzelheiten werde ich es dir offenbaren. Höre genau zu, oh Arjuna:
Wer wahrhaftig spricht, ist gerecht. Denn nichts ist höher als die Wahrheit. Doch ausgeübte Wahrheit zu verstehen, ist sehr schwer, wegen ihrer grundlegenden Natur. Wahrheit kann unaussprechlich sein. Und manchmal wird ausgesprochene Lüge zur Wahrheit und ausgesprochene Wahrheit zur Lüge. Wenn Leben oder Ehe in Gefahr sind, kann Lüge ausgesprochen werden. Auch, wenn dem gesamten Vermögen Verlust droht, wenn es dem Vergnügen einer Frau oder dem Wohle eines Brahmanen dient. Diese fünf Gelegenheiten zur Lüge wurden als sündenlos erklärt, denn in diesen Situationen kann Lüge zur Wahrheit und Wahrheit zur Lüge werden. Doch welch Narr ist der, der Wahrhaftigkeit üben will, ohne zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden zu können. Dabei wird der gerecht genannt, welcher die beiden unterscheiden kann. Und nun ist es kein Wunder mehr, wenn ein weiser Mann auch beim Begehen einer scheinbar grausamen Tat sich großen Verdienst gewinnt wie Valaka, als er das blinde Biest schlug. Und keiner mag mehr staunen, wenn ein närrischer und unwissender Mensch große Sünde erntet, selbst wenn er nach Verdienst strebt, wie Kaushika, als er bei den Flüssen lebte.

Die Geschichte von Valaka und Kaushika

Arjuna bat:
Erzähle mir, oh Heiliger, die Geschichten von Valaka und Kaushika in den Flüssen, damit ich verstehen möge.

Und Krishna sprach:
Es lebte einst ein Jäger namens Valaka. Und um seine Söhne und Ehefrauen zu ernähren, tötete er Tiere, doch nicht aus Vergnügen. Den Pflichten seiner Kaste war er hingegeben, sprach immer die Wahrheit, hegte niemals Groll und unterstützte seine Eltern und alle, die von ihm abhingen. Eines Tages war er auf der Jagd, achtsam und fleißig, doch er fand kein Tier. Schließlich entdeckte er ein trinkendes Raubtier, dessen Geruchssinn seine schlechten Augen wettmachte. Und obwohl er nie zuvor solch Tier gesehen hatte, tötete er es sofort. Danach fiel ein duftender Blütenschauer vom Himmel, und ein entzückender, himmlischer Wagen voll singender und musizierender Apsaras kam herbei und nahm den Jäger mit in den Himmel. Denn einst hatte dieses Raubtier nach harter Askese einen Segen erhalten, mit dem es beinahe die Schöpfung auslöschte. Daher hatte es der Selbstgeborene mit Blindheit geschlagen. Und weil Valaka das Tier getötet hatte, welches entschlossen war, die Wesen zu töten, kam er in den Himmel. Ja, so schwer ist Moral zu verstehen.

Und Kaushika war ein Asket, der nicht viel von den Schriften wußte. Er lebte am Zusammenfluß vieler Flüsse unweit eines Dorfes. Einst nahm er folgendes Gelübde auf sich: „Ich muß immer die Wahrheit sprechen!“. Und schon bald wurde er als Sprecher der Wahrheit gerühmt, oh Arjuna. Doch einst bemerkte er eine Schar Menschen in seinem Wäldchen, die ängstlich vor Räubern flohen. Die wütenden Räuber suchten ihre Beute und fragten Kaushika, diesen Verkünder der Wahrheit: „Oh Heiliger, sag uns, welchen Weg gingen die Leute, die vor kurzem hier waren? Antworte uns im Namen der Wahrheit. Wenn du sie gesehen hast, dann sag es uns.“ Und Kaushika sprach die Wahrheit: „Die Männer gingen dort drüben in das Wäldchen mit den vielen Kletterpflanzen.“ Ja, Kaushika gab die Information weiter, und die grausamen Räuber fanden die Männer und töteten sie alle. Und weil Kaushika nicht um die subtilen Wege von Moral wußte und mit diesen Worten eine große Sünde beging, fiel er in eine gräßliche Hölle hinab. Genau wie die törichten Menschen schmerzhaft leiden müssen, die Moral nicht verstehen und keine älteren und weisen Menschen um Rat fragen, welche ihre Zweifel zerstreuen könnten.

Es gibt immer Anzeichen, mit denen man Tugend von Sünde unterscheiden kann. Manchmal erlangt man dieses hohe und unerreichbare Wissen durch Vernunft. Viele sagen, daß die Schriften die Moral aufzeigen. Nun, ich widerspreche dem nicht. Doch die Schriften können nicht jeden Fall aufzeigen. Die Regeln für Moral wurden für das Wachstum der Menschheit festgelegt. Und daher muß das, was das Verletzen von Lebewesen meidet, Moral sein. Ja, die Regeln wurden gemacht, damit die Geschöpfe sich vom gegenseitigen Verletzen enthalten. Und weil sie damit die Schöpfung erhält, wird Moral auch Dharma (Tugend und Gerechtigkeit) genannt. Moral bewahrt die Schöpfung und wurde deswegen geschaffen. Man sollte niemals mit Menschen verkehren, die nie andere um Hilfe und Rat bitten, auch wenn sie hoffen, Tugend oder Erlösung zu erlangen, gerade in Situationen, von denen die Schriften schweigen. In einer Situation, die Reden erfordert, jedoch weder von der Vernunft noch den heiligen Schriften erleuchtet wird, sollte man schweigen. Und wenn Schweigen gefährlich ist, dann kann man eine Lüge sprechen. Diese Lüge ist dann Wahrheit. Denn wer ein heilsames Gelübde mit einem gewissen Ziel ablegt, und dieses Gelübde bewahrt, der erntet auch die guten Früchte. In Scherzen oder bei Lebensgefahr, beim Heiraten oder wenn die Vernichtung der gesamten Familie bevor steht, droht keine Falschheit. Wer die Moral verstanden hat, sieht darin keine Sünde. Wenn man durch einen Eid der Gesellschaft von Dieben und Räubern entkommen kann, dann ist es besser, etwas Falsches zu schwören, denn diese Falschheit wird zur Wahrheit. Wenn es vermeidbar ist, sollte niemand seinen Reichtum Dieben überlassen. Denn das Geben von Schätzen an sündige Menschen belastet den Geber. Wer also eine Lüge spricht, um ein gerechtes Ziel zu erreichen, wird nicht mit Falschheit belastet. Damit habe ich dir die Zeichen erklärt, an denen man Moral erkennt. Und jetzt, wo du all das gehört hast, sage mir, ob Yudhishthira es verdient, von dir getötet zu werden.

Arjuna antwortete:
Oh Krishna, du bist höchst weise und klug. Was du uns rätst, ist zweifellos zu unserem Wohl. Du bist uns wie Mutter und Vater zugleich. Du bist unsere große Zuflucht und erteilst uns vorzügliche Ratschläge. Es gibt nichts in den drei Welten, oh Krishna, was dir unbekannt ist. Und daher verstehst du die hohe Moral in all ihren Schichten. Ich bin ganz sicher, daß ich König Yudhishthira, den Gerechten, niemals töten werde. Doch was meine jetzige Aufgabe betrifft, so erkläre mir gnädig, was ich tun soll. Höre auch, was noch in meinem Herzen ist und was ich dir nun eröffnen werde. Du kennst meinen Eid, oh Krishna, daß ich den Mann schlagen werde, der mir sagt, ich solle Gandiva an einen anderen abgeben, der mir in Waffen und Energie überlegen ist. So wie Bhima jeden töten würde, der ihn bartlos (unmännlich) nennt. Und nun hat der König in deiner Gegenwart zu mir gesagt: „Gib deinen Bogen ab.“ Wenn ich ihn töte, könnte ich nicht einen Moment länger in dieser Welt leben. Schon, daß ich es in einem unüberlegten und törichten Moment gedacht habe, beschmutzt mich mit Sünde. Oh Gerechter, gib mir bitte solchen Rat, damit mein Eid vor der Welt wahr wird und gleichzeitig mein älterer Bruder und ich leben können.

Krishna sprach:
Der König war erschöpft und von Kummer heimgesucht. Karna hat ihn mit vielen Pfeilen schmerzlichst verwundet, während er sich von der Schlacht zurückzog. Unter dieser schweren Last der Verzweiflung sprach er solch bitteren und provozierenden Worte zu dir im Zorn, damit du nun Karna töten kannst. Er weiß, daß in dieser Welt nur du diesen Helden besiegen kannst. Ja, nur deshalb hat er diese groben Worte in dein Antlitz geschleudert. Der Einsatz im heutigen Schlachtenspiel liegt auf dem immer wachsamen und unerträglichen Karna. Wenn Karna besiegt ist, sind es zweifellos auch die Kauravas. Das sind auch die Gedanken des königlichen Yudhishthira. Schon deshalb verdient er nicht den Tod. Doch auch dein Gelübde, oh Arjuna, sollte gehalten werden. So höre nun meinen Rat, der dir angenehm sein wird, denn Yudhishthira wird zwar des Lebens beraubt, aber nicht sterben. Solange einer, der Respekt verdient, ihn auch erhält, lebt er in der Welt der Menschen. Doch wenn solch Würdiger mißachtet wird, sagt man, daß er getötet wird, obwohl er noch lebt. Der König wurde immer von Bhima, dir und den Zwillingen geachtet, und auch von all den ehrenwerten Helden und sogar den Älteren. So zeige ihm bei einer Lappalie deine Mißachtung. Sprich ihn mit „du“ (und nicht „Euer Ehren“) an, denn davon stirbt ein Älterer (im Herzen). Dies ist die beste Belehrung, sowohl des Atharvan als auch des Angiras. Menschen, die sich Gutes wünschen, sollten mit Mut genauso handeln. Ja, man sagt, daß der verehrenswerte, ältere Mann stirbt, ohne sein Leben zu verlieren, wenn er mit „du“ angesprochen wird. So folge deinen Pflichten und sprich König Yudhishthira auf diese Weise an, wie ich es dir rate. Yudhishthira wird das niemals als wirkliche Beleidigung auffassen. Und wenn du ihn so angesprochen hast, dann ehre seine Füße, sprich respektvolle Worte zu ihm und besänftige die verwundete Ehre wieder. Dein Bruder ist weise. Er wird niemals deswegen mit dir zürnen. Und frei von Falschheit und Brudermord wirst du dann freudig den Karna schlagen.


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