Pushpak Mahabharata Buch 12Zurück WeiterNews

Mokshadharma Parva - Der große Pfad der Befreiung

Kapitel 174 - Die Belehrung des Senajit über das Leiden

Yudhishthira sprach:
Oh Großvater, du hast über die nützlichen Aufgaben (in Notzeiten) bezüglich der Pflichten der Könige gesprochen. Mögest du mir jetzt, oh König, auch jene Besten der Aufgaben verkünden, die mit dem vierten Lebensziel (der Befreiung, Moksha) verbunden sind.

Bhishma sprach:
Die Religion (das Dharma) hat viele Tore. Die Beachtung ihrer Gebote kann nie fruchtlos sein. Für jede Lebensweise gibt es besondere Aufgaben. Auch die Früchte der Entsagung, welche auf das Höchste Selbst gerichtet ist, sind in dieser Welt erreichbar. Was auch immer das Ziel ist, dem man sich gewidmet hat, dieses Ziel, oh Bharata, und nichts anderes, erscheint einem als der höchste Gewinn mit dem größten Segen. Wenn man wahrhaft nachdenkt (und sein Herz damit reinigt), kommt man zur Erkenntnis, daß die äußerlichen Dinge dieser Welt so wertlos sind wie Stroh (hohl und essenzlos). Zweifellos läßt damit das Verlangen bezüglich dieser Dinge nach. Und wenn man diese Welt, oh Yudhishthira, dann wirklich voller Mängel erkennt, wird doch wohl jeder intelligenzbegabte Mensch um die Befreiung seiner Seele kämpfen.

Yudhishthira sprach:
Oh Großvater, sage mir, mit welcher Geistesverfassung man sein Leiden überwinden kann, wenn man Wertvolles verliert, wenn zum Beispiel Ehepartner, Kinder oder Eltern sterben.

Bhishma sprach:
Wenn man Vermögen, Ehepartner, Kind, Vater oder Mutter verloren hat, spreche man zu sich selbst: „Sieh nur, das ist das alldurchdringende Leiden!“ Mit dieser Einsicht sollte man sich bemühen, dieses Leiden zu überwinden. Diesbezüglich wird die alte Geschichte von einem Gespräch zwischen König Senajit und einem Brahmanen erzählt, der ihn am Hofe besuchte. Als er den schwer gequälten Monarchen sah, wie er in Kummer und Sorgen wegen des Todes seines Sohns brannte, sprach der Brahmane zum traurigen Herrscher:
Warum läßt du dich so betäuben? Bist du ohne jegliche Intelligenz und Erkenntnis? Warum grämst du dich über andere, wo du doch selbst bemitleidenswert bist? Nicht lange hin, und andere werden dich beklagen. Und bald werden auch diese beklagt. Du selbst, ich und alle anderen, die dir huldigen, oh König, werden wieder dorthin gehen, woher wir alle gekommen sind.

Da fragte Senajit:
Was ist das für eine Einsicht, was für eine Entsagung, oh erfahrener Brahmane, was für eine geistige Konzentration, was für eine Erkenntnis und was für ein Wissen, wodurch du das Leiden überwunden hast, oh Askesereicher?

Der Brahmane sprach:
Erkenne wie alle Wesen auf allen Ebenen des Lebens aufgrund ihrer persönlichen Taten im Leiden verstrickt sind. Ich selbst sehe nichts Eigenes mehr in mir, und so betrachte ich das ganze Universum als mein Selbst, wie es auch das Selbst aller („anderen“) Wesen ist, und bleibe unerschüttert. Durch die so gewonnene Erkenntnis werde ich weder von Freude noch von Leiden davongetragen. Wie zwei Holzstücke, die auf den Strömungen des Ozeans treiben, einmal zusammen finden und dann wieder getrennt werden, so ist die Verbindung aller Wesen in dieser Welt, seien es Söhne, Enkel, Verwandte oder Bekannte. Man sollte sich niemals zu sehr an sie binden, denn die Trennung ist unvermeidlich. So kam auch dein Sohn aus dem Unsichtbaren (bzw. Unentfalteten), ist wieder gegangen und unsichtbar geworden. Er hat weder dich wahrlich erkannt noch du ihn. Wer bist du? Und wen beklagst du? Das Beklagen entsteht aus der Krankheit der Begierde. Seligkeit ist, wenn diese Krankheit der Begierde geheilt wurde. Aus Glück entsteht immer wieder neues Leiden. Leiden folgt dem Glück und Glück dem Leiden. Glück und Leid kreisen im Menschen wie auf einem Rad. Nach jeder glücklichen Zeit wird dich eine leidvolle Zeit treffen, und danach kommt wieder eine glückliche. Keiner muß für immer leiden, und keiner genießt für immer sein Glück. Der Körper ist die Heimstatt von Freude und Leid. Was auch immer für Handlungen ein verkörpertes Wesen durch seine Körperlichkeit vollbringt, deren Früchte muß er mit seiner Persönlichkeit ernten. Das irdische Leben kommt mit dem Körper zur Existenz. Diese zwei bestehen zusammen und gehen zusammen zugrunde. Menschen mit ungereinigter Seele, die an irdische Dinge durch verschiedene Fesseln verhaftet sind, treffen auf ihren Untergang, wie Dämme aus Sand vom Wasser davongespült werden. Das verschiedenartige Leiden, das aus der Unwissenheit geboren wird, arbeitet wie eine Ölpresse, um alle Wesen aufgrund ihrer Anhaftungen anzugreifen. Wahrlich, wie die Samen in der Ölpresse, so werden die Wesen vom Leiden im Rad der Wiedergeburten bedrückt.

Der Mann (das Männliche) begeht im Verlangen nach der Frau (dem Weiblichen) zahlreiche unheilsame Handlungen und erträgt persönlich verschiedenstes Leiden sowohl in dieser als auch in der kommenden Welt. Alle Menschen, die Kindern, Ehepartnern, Verwandten und Bekannten verhaftet sind, versinken im abgrundtiefen Meer des Kummers wie schwere Elefanten im Sumpf. Wahrlich, oh Herr, beim Verlust von Reichtum, Kindern, Verwandten oder Bekannten ertragen diese Menschen große Qualen, die in ihrer Macht einer Feuersbrunst im Wald gleichen. Alle diese Erscheinungen, wie Glück und Leid, Sein und Nichtsein, sind vom Schicksal abhängig. Mag man Freunde haben oder nicht, mag man Feinde haben oder nicht, mag man Wissen haben oder nicht, jeder von ihnen empfängt sein Glück durch das Schicksal. Freunde sind keine Garantie für Glück und Feinde nicht für Unglück. Klugheit ist keine Garantie für Reichtum, noch Reichtum für ein glückliches Leben. Klugheit macht nicht reich und Dummheit nicht arm. Nur, wer mit Weisheit gesegnet wird und niemand sonst, versteht die Ordnung dieser Welt. Ob intelligent, heroisch, dumm, feige, träge, gelehrt, schwach oder stark, das Glück kommt nur zu jenem, dem es (durch sein Karma) bestimmt ist.

Ob die Kuh nun dem Kalb, dem Kuhhirten oder dem Dieb gehört, nur wer ihre Milch trinkt, hat wahrlich die Kuh. (Nur wer ihr Wesen erkennt, hat wahrlich diese Welt gewonnen.) Es gibt nur zwei, die leidlos sind: Die völlig Unbewußten (traumloser Schlaf) und die völlig Erleuchteten (traumloses Wachen). Alle weltlichen Wesen dazwischen (traumhafter Schlaf und traumhaftes Wachen) müssen leiden. Die Weisen erfreuen sich an den beiden jenseitigen Bewußtseinszuständen und haben die (traumhaften) Zwischenzustände überwunden. Die Weisen sagen, daß man wahre Seligkeit nur jenseits (des Träumens) erreichen kann. Dazwischen (bzw. diesseits in der Traumwelt) gibt es Leiden. Nur jene, die wahre Seligkeit erreicht haben und frei vom Glück und Leid dieser Welt geworden sind, die keinen Neid und keine Ichhaftigkeit mehr kennen, werden durch Gewinn und Verlust nicht mehr verwirrt. Wer jedoch diese Weisheit noch nicht gewonnen hat, die zu wahrer Seligkeit führt, sondern noch Verblendung und Unwissenheit in sich trägt, neigt zu unmäßiger Freude oder Kummer. Sie können kaum zwischen recht und unrecht unterscheiden und verwirrt vom Stolz und Erfolg über andere, werden sie euphorisch und fühlen sich wie Götter auf Erden. Solches Glück muß im Leiden enden. Handeln strebt nach Glück, Untätigkeit sinkt ins Leiden. Anstrengung strebt nach Fülle und Reichtum, Trägheit sinkt in Armut. Sei es Glück oder Leid, Angenehmes oder Unangenehmes, was einem begegnet, möge man zufrieden hinnehmen oder mit tapferem Herzen ertragen. Einen verblendeten und unwissenden Menschen greifen jeden Tag tausende Gelegenheiten für Sorgen und hunderte Gelegenheiten für Angst an. Der Weise bleibt davon frei. Sorgen können nie einen Menschen verwirren, der mit Erkenntnis gesegnet ist, der Weisheit erworben hat, der voller Achtsamkeit von den Vorbildern im Leben gelernt hat, der selbstgezügelt und ohne Neid und Egoismus ist. So stützt sich ein Weiser auf Erkenntnis und beschützt sein Herz (vor den Einflüssen der Begierden und Leidenschaften). Wahrlich, wer das Höchste Selbst erkannt hat, in dem alles entsteht und vergeht, den kann das Leiden nicht mehr verwirren. Jede Wurzel des Leidens, wodurch man Kummer und Sorgen fühlt und zur Qual getrieben wird, sollte abgeschlagen werden, wäre es auch ein Glied des eigenen Körpers. Jedes Objekt, was es auch sein mag, zu dem man den Gedanken „mein“ hegt, wird zur Quelle von Kummer und Sorgen. Dagegen wird jede Begierde, der man entsagt, eine Quelle des Glücks. Der Mensch, der den Begierden hinterherläuft, jagt seinem eigenen Untergang entgegen. Weder das Glück, das aus der Befriedigung der Sinnesgenüsse entsteht, noch die große Glückseligkeit, die man im Himmel genießen kann, gleicht nur zu einem sechzehnten Teil der Glückseligkeit, die aus der Begierdelosigkeit (bzw. „Zufriedenheit“) entsteht. Die Taten ehemaliger Leben, seien sie gut oder schlecht, holen in ihren Folgen den Klugen wie den Dummen, den Tapferen wie den Furchtsamen ein. Eben dadurch kreisen Freuden und Sorgen, Angenehmes und Unangenehmes unaufhörlich unter den lebenden Wesen. Auf diese Erkenntnis gestützt, lebt der Weise gelassen.

Man sollte alle Begierden überwinden und sich nie vom Zorn besiegen lassen. Dieser Zorn entsteht im Herzen und wächst dort an Kraft und Macht. Dieser Zorn, der im Körper der Menschen wohnt und in ihrem Geist geboren wurde, wird von den Weisen als Tod bezeichnet. Wenn man all sein Verlangen zurückziehen kann wie eine Schildkröte ihre Glieder, dann kann man im Licht des Selbst (durch „Erleuchtung“) sich selbst erkennen. Jeder Gedanke von „mein“, den man zu einem Objekt hegt, was es auch sei, wird zur Quelle von Kummer und Sorgen. Wenn man keine Angst mehr hat und von keinem gefürchtet wird, wenn man weder Begehren noch Abneigung kennt, dann spricht man vom Zustand des Brahman. Wer Glück und Leid, richtig und falsch, Angst und Mut, angenehm und unangenehm überwunden hat, der findet die Stille der Seele. Wer keinem Wesen in Gedanken, Worten oder Taten schadet, der erreicht das Brahman. Wahres Glück ist dem, der diesen Durst gestillt hat, den der Unwissende niemals sättigen kann, der mit dem Alter nicht verfällt und mit dem Tod nicht stirbt.

Diesbezüglich, oh König, sind die Verse überliefert, die einst von Pingala gesungen wurden, als sie ewiges Verdienst in einer Zeit der Not gewonnen hatte. Als Kurtisane erkrankte Pingala schwer und konnte ihre Verehrer nicht mehr besuchen. Doch gerade in dieser leidvollen Zeit fand sie die Stille der Seele.

Und Pingala sprach:
Ach, ich lebte von Leidenschaft getrieben so viele lange Jahre an der Seite dieses wahrhaft Liebenden, ohne ihn zu erkennen, der nichts als Stille ist. Der Tod mußte erst an meine Tür klopfen, bevor ich mich dieser Essenz der Reinheit nähern konnte. Ich werde nun dieses Haus mit einer Säule und neun Türen (den menschlichen Körper) in Reinheit bewahren. Welche Frau betrachtet dieses Höchste Selbst als ihren geliebten Herrn, selbst wenn Er sich ihr naht? So bin ich erwacht und aus dem Traum der Unwissenheit wachgerüttelt worden. Kein Begehren treibt mich noch. Die Begierden dieser Welt erkannte ich als Verkörperungen der Hölle. Sie können mich nicht mehr täuschen, auch wenn sie sich schmeichelnd nähern. So wurde Unglück zum Glück durch das Schicksal oder die Taten vorheriger Leben (das Karma). Wachgerüttelt (aus dem Traum der Unwissenheit) sind alle weltlichen Wünsche vergangen und die Sinne unter Selbstkontrolle. Vom Träumen befreit, schläft man in Glückseligkeit. Vom Träumen befreit, wacht man in Glückseligkeit. Vom Träumen befreit, ohne Wunsch und Hoffnung, verweilt Pingala in der zeitlosen Stille.

Bhishma fuhr fort:
Überzeugt von diesen und anderen Worten des gelehrten Brahmanen, warf König Senajit seinen Kummer ab und erfuhr Heiterkeit und höchstes Glück.


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