Pushpak Mahanirvana-TantraZurück WeiterNews

Anhang 1 - Die zehn Mahavidyas

Shiva-Shakti: Es ist oft schwer, die selbstverständlichen Begriffe der uralten indischen Yogawelt in die selbstverständlichen Begriffe unserer modernen westlichen Welt zu übersetzen. Wenn in diesem Tantra-Text Shiva mit seiner Ehefrau Parvati spricht und im Dialog die Gebote und Geheimnisse der Welt erklärt, so können wir von Gott und Göttin sprechen, vom männlichen und weiblichen Prinzip und im wesentlichen Sinne von Geist und Natur, dem Vater und der Mutter aller lebenden Wesen. Dabei sollte man nie vergessen, daß dies nur zwei Seiten ein und desselben Wesens sind, und ihre Vereinigung könnten wir Gottheit, das Sein oder auch Brahman nennen. Über das Eine kann man natürlich nicht viel nachdenken, und so spalteten wir das Eine künstlich in Gegensätze und versuchen damit, das Eine wiederzufinden. Und das ist schwer, denn um so mehr man das Spannungsfeld der Gegensätze verläßt und sich dem Einen nähert, um so mehr verlassen uns die Gedanken, und es scheint immer dunkler zu werden. Ja, selbst für unsere moderne westliche Wissenschaft liegt der Ursprung des Lebens noch tief im Dunkeln. Für diese „Dunkelheit“ oder auch Nacht steht hier das Wort „Kali“, die dunkle Göttin und Mutternatur, aus der alle Wesen körperlich geboren werden, der Mutterschoß, der im Dunklen, Formlosen und Ungestalteten liegt, was unsere normalen Sinne nicht erfassen können.

Das Wort Kali steht aber auch für unser Zeitalter, das sogenannte Kali-Zeitalter oder dunkle Zeitalter. In diesem Zeitalter scheint sich das Gewicht zwischen Geist und Natur zunehmend auf die Natur zu verschieben. Das können wir auch an unserer modernen Wissenschaft beobachten, in der nur scheinbar objektive Meßwerte gelten, aber die geistige Kraft kaum noch eine Rolle spielt. Auch in den indischen spirituellen Texten der letzten tausend Jahre scheint sich der Focus zunehmend auf die Natur zu verlagern, die Macht des weiblichen Wesens, vom Gott auf die Göttin.

Wenn zuvor Shiva als Schöpfer, Erhalter und Vernichter auf dem Weltenzwerg tanzte, so sieht man nun die Natur in Gestalt von Kali auf Shiva stehen, der wie tot am Boden liegt. Bei der Betrachtung solcher Bilder, sollte man natürlich nie vergessen, daß es sich immer noch um ein und dasselbe Wesen handelt, die Gottheit, die praktisch jede erdenkliche Form annehmen kann:

Zu dieser Wandlung des Kali-Zeitalters in die weibliche Richtung der Natur gehört auch die Verehrung einer Gruppe von zehn seltsamen Frauengestalten, den sogenannten Mahavidyas, die in diesem Tantra-Text ganz selbstverständlich genannt, aber nicht weiter erklärt werden. So möchten wir an dieser Stelle versuchen, ein paar Gedanken darüber zu wälzen.

Mahavidyas: „Maha“ bedeutet „Groß“ und „Vidya“ bedeutet „Wissen“. Also die zehn großen Wissen, und weil es weibliche Wesen sind, geht es vermutlich um die Natur. Eine gute Übersetzung ist schwer zu finden, man könnte vielleicht von den wesentlichen Grundzügen oder Gesichtern der Natur sprechen, oder sogar von yogischer Naturwissenschaft. Im Vordergrund steht ihre Meditation und Verehrung in symbolhaften Bildern, die man mittlerweile weitverbreitet in Indien findet und die vor allem im Tantra eine wichtige Rolle spielen. Über ihre Entstehung gibt es unterschiedliche Geschichten, die verschiedene Aspekte zum Ausdruck bringen.

Die Mahavidyas als Formen von Sati: Diese Geschichte ist mit dem altbekannten großen Opfer von Daksha verbunden, als Daksha versäumte, Shiva mit seiner Gattin Sati dazu einzuladen. Sati wollte trotzdem zum Opfer gehen, doch Shiva versuchte vernünftigerweise, sie zurückzuhalten. Daraufhin wurde Sita erst ärgerlich, dann wütend und zeigte sich schließlich mit zorngeröteten Augen und zitternden Gliedern. Da schloß Shiva seine weltlichen Augen, öffnete sein geistiges Auge und sah ein schreckliches Weib vor sich. Der Zorn zeichnete sie mit den Schrecken von Alter und Tod, der Haß ließ sie häßlich werden, und alles Glücksverheißende verschwand. Sie bekam zusätzliche Arme mit Waffen in den Händen, eine dunkle Haut und wildes Haar, der Schaum stand auf ihren Lippen, ihre Zunge wütete, und sie sprang hin und her. Sie war völlig nackt, trug nur eine Girlande aus Totenköpfen und die Mondsichel als Krone. So stand sie vor Shiva, erschütterte mit ihrem schrecklichen Geheul die ganze Erde und erfüllte mit ihrer Leidenschaft die ganze Welt wie mit Millionen Sonnen. Shiva wollte sich erschrocken abwenden. Doch in welche der zehn Richtungen er auch floh, überall verkörperte sich Sati in verschiedenen Formen. Da fragte Shiva: „Wer seid ihr?“ Und sie antworteten: „Weißt du das nicht? Wir sind die Wesen von Sati (der Natur)!“ So entstanden die zehn Mahavidyas in den zehn Richtungen des Raumes (den vier Haupt- und vier Nebenhimmelsrichtungen sowie Oben und Unten). Shiva sah keinen Ausweg, gewährte ihren Willen und ließ sie zum Opfer von Daksha gehen. Damit trennte sie sich von ihrem Mann (dem Geist), behinderte das Opfer und tötete sich schließlich selbst im Opfer...

Die Mahavidyas als Formen von Parvati: Als Shiva mit seiner Frau Parvati, einer Wiederverkörperung von Sati, im Hause ihres Vaters lebte, wollte er eines Tages, das Haus verlassen. Doch Parvati wollte ihn nicht gehenlassen und blockierte die zehn Ausgänge des Hauses mit zehn schrecklichen Gestalten, die sie aus sich selbst erschuf, den zehn Mahavidyas. Der schreckliche Anblick sollte Shiva zurückhalten, ob es gelang, bleibt offen... - Diese Geschichte könnte auf symbolische Weise auch den Yogi meinen, der versucht, die zehn Tore des Körpers (fünf Sinne und fünf Handlungsorgane) zu verschließen, damit der Geist nicht in die Außenwelt wandert und sich dort verliert.

Die Mahavidyas als Formen von Kali: Als Shiva im anbrechenden Kali-Zeitalter mit Kali zusammenlebte, erinnerte er sich an das goldene Zeitalter, verlor seine Lust und wollte sie verlassen. Als er aufstand, fragte sie ihn, wohin er gehen wolle, und er antwortete: „Wohin es mir beliebt!“ Sie schwieg, und er begann zu wandern. Doch in jede Richtung, die Shiva betrat, erschien eine Form von Kali. Und wie er alle zehn Richtungen versuchte, erkannte (Vidya) er die zehn Mahavidyas. Damit verschwand sein Wunsch, Kali zu verlassen und umherzuwandern, denn er wußte nun, daß Kali das ganze Universum erfüllte und jegliche Form eine Form von ihr war. Und so nahm das Kali-Zeitalter seinen Lauf und dauert immer noch an...

Die Mahavidyas als Formen von Durga: Darüber hinaus gibt es viele Geschichten, in denen die Götter die große Göttin in Gestalt von Durga mit ihren Waffen ausrüsten und zum Kampf gegen die Dämonen bitten. Durga erscheint mit vielen bewaffneten Armen, mit drei Augen und auf einem Löwen reitend. Als Dämonen werden hier gewöhnlich Wesen beschrieben, die von den Göttern mit großer Macht gesegnet wurden, doch ihre Macht nur auf die äußere Welt richten, in Illusion versinken, übermäßigen Stolz und Egoismus entwickeln und nach körperlicher Unsterblichkeit greifen. Aus dieser großen Illusion (Mahamaya), verkörpert sich die große Göttin in Gestalt von Durga und vielen anderen weiblichen Wesen, die man auch Shaktis (Naturkräfte) nennt, um die Dämonen aus ihrem Traum zu rütteln. Diese Shaktis haben zumindest Ähnlichkeit mit den Mahavidyas und werden auch in jüngeren Text in diesem Zusammenhang genannt. Eine typische Geschichte über den Kampf von Durga gegen die übermächtigen Dämonen ist das Devi-Mahatmya im Markandeya-Purana.

Die zehn Verkörperungen von Vishnu: Dieser Kampf gegen die Dämonen erinnert auch an die Rolle der zehn Verkörperungen von Vishnu als Fisch, Schildkröte, Eber, Menschlöwe, Zwerg usw.. Und so liegt es auch nahe, daß man im Kali-Zeitalter die zehn Mahavidyas als weibliche Entsprechungen oder Shaktis dieser Verkörperungen deutet.

Auffällig ist jedoch, daß alle Mahavidyas zutiefst mit Shiva verbunden sind, zumindest durch ihr drittes Auge, abgesehen von der Witwe Dhumavati, die ihren Ehemann verloren hat. Sie dienen dem Geist auf dem Weg zum Erwachen, rütteln und schütteln alle Wesen mit den verschiedensten Mitteln der Natur. Welche Mittel das sind, hängt mit dem Wissen (Vidya) zusammen. Denn das Wissen kann uns binden oder befreien, es kann uns Feind oder Freund sein. Und so wollen wir nun versuchen, die einzelnen Mahavidyas bezüglich ihrer symbolischen Darstellung etwas näher zu beschreiben, was uns sicherlich nicht die intensivere Meditation erspart, aber vielleicht dazu inspiriert.

Ihre gebräuchlichsten Namen sind Kali, Tara, Tripura Sundari, Bhuvaneshvari, Bhairavi, Chinnamasta, Dhumavati, Bagalamukhi, Matangi und Kamala (die Dunkle, die Mitfühlende, die in den drei Welten Geliebte, die Verkörperung der Welt, die Respektgebietende, die sich selbst Opfernde, die dunkle Alte, die mit dem Reiher-Kopf, die Elefanten zügelt und die reine Liebe):

1. Kali - die Dunkle, der Tod und das Meer der Ursachen - die Zeugung: Das Mahavidya-Bild zeigt ein schamloses Weib, dunkel und schrecklich mit drei Augen, das den Menschen die Köpfe abschneidet und als Girlande um ihren Hals trägt, die ihnen die Hände abhackt und als Gürtel um ihre Hüfte schlingt, blutrünstig mit herausgestreckter Zunge jeden Tropfen ihres Lebenssaftes aufleckt und mit wildaufgelöstem Haar auf dem universalen Körper von Shiva tanzt. In ihren beiden linken Händen hält sie ein blutbeflecktes Schwert und einen bluttriefenden Kopf. Doch mit ihren beiden rechten Händen zeigt sie die Geste des Segnens und des Schutzgewährens, als wollte sie sagen „Hab keine Angst vor mir!“, auch wenn sie den Menschen alles zu nehmen scheint, was ihnen lieb ist: Ihre Köpfe mit all ihren Gedanken, ihre Arme mit all ihren Werken und jeden Tropfen ihres Lebens.

Diese Art von Kali als Dienerin der großen Göttin finden wir zum Beispiel auch im Devi-Mahatmya. Dort entsteht sie aus dem Zorn der Göttin, verkörpert den Tod mit dem Stab der Zeit und tötet jede Menge Dämonen. Ihr Bild hat sich natürlich im Laufe der Zeit vielfältig gewandelt, und darüber hinaus wird der Name „Kali“ für alles verwendet, was mit Dunkelheit zu tun hat. Die Symbolik ihrer Bilder hat jede Menge Potential für die Meditation, zum Beispiel der mystische Übergang von der Dualität zur Trinität im Symbol ihres dritten Auges, die Weltordnung und ihre Grenzen im Symbol ihres aufgelösten Haares, das Blutlecken und der leidenschaftliche Blutrausch, die Verbundenheit der Köpfe in ihrer Girlande, die Verbundenheit der Taten in ihrem Gürtel, das Wesen von angesammeltem Karma, das Ungreifbare und Formlose in ihrem dunklen Körper, der Segen ihrer Gesten und vor allem das Schwert, das auch bei anderen Mahavidyas eine große Rolle spielt. Meistens ist es blutbefleckt, vielleicht ein Symbol des Abtrennens, ein Grundprinzip der Natur: Trennung und Verlust ist Leiden, Vereinigung und Gewinn ist Glück, Verbundenheit ist die große Liebe und All-Einheit die höchste Befreiung.

Das folgende Bild zeigt Kali in Vereinigung mit Shiva und getragen von einem menschlichen Wesen, das zu schlafen und zu träumen scheint. Das Träumen ist ein sehr verbreitetes Symbol und deutet auf einen geistigen Zustand der Illusion hin, der das Erwachen verlangt. Schwer ist das geistige Erwachen, vor allem wenn der Traum angenehm ist und sich alles zu erfüllen scheint, was man sich erträumt. Und gerade hier vollbringt die Natur ihre große Aufgabe und versucht ihr Bestes, den Träumer wachzurütteln:

Diesbezüglich spricht man auch von der unentfalteten Natur (Prakriti) mit all dem angesammelten Karma, dem Meer der Ursachen, auf dem Vishnu schläft. Und man sagt: Wenn der Geist als ewiger Zeuge zu träumen beginnt, befruchtet und belebt er dieses Meer der Ursachen, und daraus entsteht und entfaltet sich die Natur.

2. Tara - die Mitfühlende - die Schwangerschaft: Auf dem ersten Blick erkennt man kaum einen Unterschied zwischen Tara und Kali. Im folgenden Bild trägt sie Schwert, Messer, Schädelschale und blauen Lotus. Sie ist mit Schlangen, Kette und Krone aus Totenschädeln und einem Tigerfell geschmückt. Ihre Zunge leckt nach Blut, um sie herum brennen Leichenfeuer, und auch sie wird von Shiva getragen, der noch wie leblos am Boden liegt. Ihre Brüste sind prall und ihr Bauch dick. Letzteres ist ein besonderes Zeichen von ihr und deutet auf die Geburt von neuem Leben hin, wie auch der Lotus als Symbol der Schöpfung. So könnte man auch sagen, Tara steht am Anfang des Lebens und Kali am Ende. Damit wären sie zwei Aspekte von dem dunklen, ungreifbaren Punkt, wo sich Tod und Geburt treffen und sich der Lebenskreis schließt.

Im Buddhismus hat Tara eine eigenständige Karriere gemacht und gilt als weibliche Erscheinung von Avalokiteshvara, dem Bodhisattva des universalen Mitgefühls. Vielleicht könnte man sagen: Das große Mitgefühl der Natur sind Schöpfung und Geburt, damit die Wesen einen Körper annehmen und lernen können, und das große Mitgefühl des Geistes ist das Erwachen aus der Ichhaftigkeit, die Befreiung vom Körper. In diesem Sinne ist Tara auch die Göttin des Lernens auf dem Weg zur Befreiung. So deuten manche auch die Kette der Totenköpfe als die 51 Buchstaben des Sanskrit-Alphabets, die man für Worte und Schriften beleben muß, und die fünf Totenköpfe auf dem Kopf als die fünf geistigen Gifte wie Unwissenheit, Begierde, Haß, Stolz und Neid.

Darüber hinaus gibt es noch eine interessante Ikonographie, welche Tara als liebende Mutter zeigt, die Shiva auf den Schoß nimmt und an ihrer Brust ernährt, wie auch der Geist von Mutter Natur genährt wird:

3. Tripura Sundari - die Geliebte der drei Welten - Geburt und Kindheit: Damit verkörpert sie das Schöne und Liebenswerte, was wir bei Kali und Tara bisher vermißt haben. Sie strahlt wie die aufgehende Sonne, hält Schlinge, Haken, Pfeil und Bogen in ihren vier Händen und sitzt auf einem Lotusthron, der aus dem Nabel von Shivas Bauch wächst. Shiva liegt wiederum auf einem Thron, der von den Göttern Sadashiva, Brahma, Rudra, Ishana und Vishnu getragen wird:

Die Symbolik erinnert zunächst an Vishnu, aus dessen Bauchnabel der Lotus der Welt wächst, auf dem Brahma als Schöpfergott thront. Ein wunderbares Symbol. Wie die Lotusblüte aus der Wurzel im dunklen Grund des Wassers wächst, so wächst die Natur aus dem Geist in Gestalt von Shiva. Sie erscheint schön und anziehend, wird von den Wesen der Welten geliebt und von der Macht der Götter getragen. Brahma, Vishnu und Shiva verkörpern die Schöpfung, Erhaltung und Vernichtung innerhalb der Natur. Pfeil und Bogen erinnern an die Pfeile der Liebe, die Schlinge an die Bindung und mit dem Haken zügelt und lenkt man Elefanten. In dieser Symbolik deutet sich bereits die wesentliche Aufgabe der Natur an, die sie für uns zu erfüllen hat.

So kann man den Stengel der Lotusblüte, der die Verbindung zwischen Wurzel und Blüte durch das Gesetz von Ursache und Wirkung symbolisiert, auch umgekehrt als Nabelschnur betrachten. Dann wird die Natur selbst wieder zur Mutter und ernährt ein Kind, das sich irgendwann abnabelt und wieder zu Mutter oder Vater wird.

Hier haben wir die alte Frage vom Ei und dem Huhn: Entsteht die Natur aus dem Geist, wie der Lotus aus der Wurzel, oder der Geist aus der Natur, wie das Kind an der Nabelschnur im Mutterleib? Das Ganze erinnert auch an die christliche Mystik von Vater und Sohn: der Sohn-Geburt, dem Sohn-Werden, dem Sohn-Sein und dem Eins-Sein zwischen Vater und Sohn. Also, jede Menge Stoff zur Meditation...

Über ihre Entstehung gibt es noch folgende Geschichte: Als Parvati die Gestalt von Kali angenommen hatte, nannte sie Shiva vor all den schönen himmlischen Damen immer wieder die „Dunkle“. Das verletzte ihren Stolz, und sie empfand große Abneigung gegen ihre dunkle Gestalt. So verließ sie Shiva und war entschlossen, sich durch Askese von dieser Dunkelheit zu reinigen. Einige Zeit später besuchte Narada den Kailash, erblickte dort Shiva allein und fragte: „Wo ist deine Frau?“ Und Shiva antwortete: „Sie hat mich verlassen und ist verschwunden.“ Daraufhin benutze Narada seine Yoga-Kraft, erblickte sie im Norden des Berges Meru und begab sich zu ihr, um sie zur Rückkehr zu bewegen. Dazu erzählte er der Dame, daß Shiva beabsichtigt, sich neu zu verheiraten, und sie schnellstens erscheinen sollte, um dies zu verhindern. Und sie folgte und kehrte zurück. Doch durch ihre Askese hatte sich mittlerweile ihre Gestalt verändert, ohne daß sie es selbst bemerkt hatte. Und wie sie in die Nähe von Shiva kam, spiegelte sich ihre neue Gestalt in seinem Herzen, so daß sie höchst erschrocken war und glaubte, eine andere Göttin zu erblicken. Shiva ermahnte sie zur Achtsamkeit, um mit dem Auge der Weisheit zu schauen. Da erkannte sie sich selbst in gewandelter Form im Herzen von Shiva. Darauf segnete er sie und sprach: „Weil du eine so schöne Gestalt entwickelt hast, die den drei Welten gefällt, sollst du den Namen Tripura Sundari tragen. Und weil du nun so vollkommen wie eine sechzehnjährige Jungfrau erscheinst, sollst du auch Shodashi heißen.“

4. Bhuvaneshvari - die Verkörperung der Welt - die Jungfrau: Wie Shodashi sitzt sie auf einem roten Lotusthron und hält Schlinge und Haken. Darüber hinaus zeigt sie die Gesten des Segnens und Schutzgewährens, ist als weibliches Wesen gereift und erscheint freundlich, eigenständig und von ihrer Wurzel gelöst. Der rote Lotus und die rote Kleidung deuten auf die Leidenschaft hin, die neben der Güte und Trägheit unter den drei natürlichen Qualitäten (von Sattwa, Rajas und Tamas) während der Schöpfung dominiert.

Über ihre Entstehung wird folgende Geschichte erzählt: Am Anfang der Schöpfung erhob sich die Sonne im Himmel, und die Heiligen opferten Soma (den fruchtbaren Mondnektar), damit die Schöpfung entstehen möge. So erschienen im Licht der Sonne die drei Welten. Zu jener Zeit war Shodashi die treibende Kraft der Schöpfung. Und nachdem die drei Welten geschaffen waren, hatte die Göttin (die Natur) diese Form angenommen, erfüllte die Welten vollkommen und wurde unter dem Namen Bhuvaneshvari bekannt. - In diesem Sinne verkörpert sie die fünf Elemente und die ganze Natur oder physische Welt.

In ihren Händen sehen wir zwei interessante Symbole, die sich durch viele Bilder der Mahavidyas ziehen, den Elefantenhaken und die Schlinge. Dieser Haken ist uns Europäern sicherlich wenig geläufig. Er ist ein uraltes Hilfsmittel, um Elefanten zu zähmen und zu führen, und damit ein Symbol der Macht. Der geschickte Führer setzt den Haken mittels Piksen und Schlagen ein und kann den Dickhäuter entsprechend führen, zügeln oder drängen. Das klingt zunächst nach Quälerei, doch wir fragen uns: Welche Aufgabe hat eigentlich der Schmerz in der Natur? Das wir ihn nicht haben wollen, ist schon klar. Aber wie gehen wir damit um? Wohin will er uns führen?

Und wer ist mit dem Elefanten gemeint? Der Elefant steht für Stärke und Macht. Er hat ein sagenhaftes Gedächtnis und ein menschenähnliches Gefühlsleben, ist gelehrig, klug und sehr sensibel. So ist der Elefant vermutlich ein altes, aber eigenartigerweise nur noch wenig verwendetes Symbol, für das mächtige Geistwesen mit all dem angesammelten Karma und den Neigungen, Erinnerungen, Gefühlen, Wünschen und Gedanken. Wobei die Gedanken schon mehr an Affen erinnern, die sich gierig auf alles stürzen, was nach Nahrung aussieht. Denken wir an die Affenarmee im Ramayana, die hier jedoch wohlgeführt eine große Hilfe im Kampf wurde. Das Elefanten-Symbol begegnet uns zum Beispiel in den Diggajas, welche die Erde tragen, in Ganesha, der für seine große Intelligenz bekannt ist, oder auch in der buddhistischen Überlieferung zu den Stufen der Geisteszügelung (Shamatha):

Der Elefant steht hier für das Geistwesen, und die schwarze Farbe symbolisiert die Dunkelheit der Illusion (Tamas). Die Affen sind die gedanklichen Ablenkungen, und ihre dunkle Farbe die Wildheit. Zimbel, Kleidung, Spiegel, Frucht und Muschel mit Safranwasser stehen für die fünf Sinne von Gehör, Gefühl, Sicht, Geschmack und Geruch, die uns auf dem Weg dienen. Das Feuer ist die Anstrengung oder auch Leidenschaft. Schlinge und Haken stehen für Zügelung, Achtsamkeit und Erkenntnis.

5. Bhairavi - die Respektgebietende - die Ehefrau: Die Natur erhebt sich nun auf dem Lotus der Schöpfung und übernimmt zunehmend ihre Aufgabe. In ihren unteren Händen hält sie ein Buch und eine Gebetskette. Das sind Symbole, die wir auch von Sarasvati, der Göttin des Lernens, kennen. Sie stehen für die Naturgesetze, die Veden und das Lernen sowie für geistige Zügelung, Yoga und Askese. Die beiden anderen Hände zeigen verschiedene Gesten, die auf das erwachende Bewußtsein, Tätigkeit, Schutz und Segen hindeuten. Sie hat die drei Augen von Shiva, erinnert an Parvati, die Frau von Shiva, und steht auf einem vollerblühten Lotus auf dem Meer der Ursachen mit den großen Bergen an Karma. Sie trägt die Krone als Herrscherin und strahlt wie die Sonne im Zenit:

Wie man sieht, haben die letzten drei Bilder große Ähnlichkeit. Doch die Schädelkette, die wir von Kali und Tara bereits kennen, und der Name Bhairavi deuten nun auch auf einen weiteren Aspekt hin, der sich unter dieser schönen Gestalt der Natur verbirgt. Bhairavi heißt auch „die Schreckliche“ und gilt als die weibliche Form von Bhairava, dem schrecklichen Aspekt von Shiva, der mit Zerstörung, Vernichtung und Tod verbunden ist. Sozusagen die nackte Natur, im Spiel der Gegensätze von Ananda-Bhairava oder auch Glück und Leid bzw. Zuckerbrot und Peitsche:

Bhairavi, die Schreckliche

6. Chinnamasta - die sich Opfernde - die Mutter: Wir sehen nun ein sehr eindrucksvolles Bild, als Fortsetzung von Bhairavi in ihrer unverhüllten Form. Über ihre Entstehung gibt es folgende Geschichte: Eines Tages ging Parvati, die Göttin von Shiva, mit ihren beiden Dienerinnen Jaya und Vijaya zum Baden im Fluß Mandakini (die himmlische Ganga oder auch Milchstraße). Doch nach dem Bade regte sich das Verlangen der sinnlichen Liebe und ihr Körper wurde rot. Und kurz darauf sprachen ihre beiden Gefährtinnen: „Wir sind auch hungrig. Bitte sättige uns!“ Darauf antwortete die Göttin: „Wartet etwas, ich werde euch Nahrung geben.“ Aber schon nach kurzer Zeit fragten sie wieder, und sie sprach: „Habt Geduld, ich denke über eine Lösung nach.“ Doch die beiden drängten erneut und riefen: „Du bist die große Mutter des Universums und gibst deinen Kindern alles, was sie wünschen. Du gibst ihnen nicht nur Nahrung, sondern sogar einen Körper. Deswegen bitten wird dich, denn du bist für dein Mitgefühl und deine großen Gaben bekannt. Bitte, gib uns Nahrung!“ Als die Frau von Shiva ihre Bitte hörte, versicherte sie: „Sobald wir nach Hause zurückgekehrt sind, werdet ihr alles bekommen, was ihr euch wünscht.“ Doch ihre beiden Dienerrinnen bettelten erneut: „Oh Mutter des Universums, wir sind völlig vom Hunger überwältigt. Oh mitfühlende Göttin, die Segen gibt und Wünsche erfüllt, bitte gib uns Nahrung und erfülle unser Verlangen!“ So unerträglich echt war ihr Hunger. Da lächelte die Göttin voller Mitgefühl und schnitt sich mit ihren Fingernägeln wie mit einem Schwert den eigenen Kopf ab. Der Kopf fiel, und mit der linken Hand fing sie ihn auf und hielt ihn fest. Nun traten drei Ströme Blut aus ihrem Hals. Der linke und rechte floß als Nahrung in die Münder ihrer beiden Gefährtinnen, und der mittlere ernährte ihren eigenen Kopf. Auf diese Weise wurden alle gesättigt, sie kehrten nach Hause zurück und Parvati erhielt den Namen Chinnamasta.

Entsprechend sieht man im Bild die Göttin nackt mit dem Schwert in der rechten Hand und ihrem Kopf in der linken. Sie wird vom roten Lotus der Schöpfung und von der Kraft der sinnlichen Liebe getragen, die das Paar von Kama und Rati, dem Liebesgott mit seiner Göttin, in sexueller Vereinigung symbolisiert. Ihre beiden Gefährtinnen werden als Jaya und Vijaya bezeichnet, was soviel wie Sieg und großer Sieg bedeutet. Sie stehen sich wie Gegensätze gegenüber. Die eine wird dunkel dargestellt und die andere weiß, was zusammen mit dem roten Körper der Göttin an die drei natürlichen Qualitäten von Güte, Leidenschaft und Trägheit erinnert, die drei Gunas von Sattwa, Rajas und Tamas mit den Farben Weiß, Rot und Schwarz. In diesem Sinne könnte man bezüglich Jaya und Vijaya auch von zwei Arten des Sieges sprechen, dem weltlichen und dem geistigen Sieg, die sich im allgemeinen Verlangen nach Gewinn oft gegenüberstehen und natürlicherweise mit der Leidenschaft verbunden sind. So sagt man auch: Weltlich gewonnen ist geistig verloren, und weltlich verloren ist geistig gewonnen. Denken wir zum Beispiel an die Erfindung des Taschenrechners und den Verlust des Kopfrechnens, oder an das Navi-System und den schwindenden Orientierungssinn, oder die zunehmende Bürokratie und die abnehmende Vernunft. Und wie sich das Internet auf Gedächtnis, Phantasie und Kreativität auswirken wird, das werden wir auch bald erfahren...

Es gibt keinen Sieg ohne Opfer! Früher schien es normal gewesen zu sein, daß man weltliches Gut für geistigen Gewinn opferte. Denken wir nur an die lange Geschichte im Mahabharata. Heute scheint es umgekehrt, wir opfern das geistige Gut für weltlichen Gewinn, und am liebsten wollen wir alles haben und das ganz ohne Opfer, als gäbe es ein Plus ohne Minus.

Dieses Selbstopfer der Natur ist ein großes Thema, über das man lange und tief nachdenken kann. Es beginnt bei der Trennung zwischen Kopf und Körper, zwischen Geist und Natur, zwischen Ich und dem Rest der Welt. In diesem Spannungsfeld fließt der Strom des Blutes wie der große Strom des ganzen Lebens. So opfert sich die Natur, damit die Wesen leben, einen Körper annehmen und lernen können. So nimmt die Mutter das Leiden auf sich, damit ihre Kinder die kleinen und großen Siege erringen und ihre Wünsche erfüllen können. So leidet die Natur, damit wir irgendwann auch den höchsten Sieg gewinnen und erwachen. Und das nicht nur im theoretischen Sinne, sondern ganz praktisch. Schauen wir uns nur um, wie gerade heute die Natur unter der Menschenlast leidet, und welche großen Opfer sie für uns bringt.

7. Dhumavati - das dunkle Alter - die Witwe: Über ihre Entstehung wird erzählt: Als Shiva mit seiner Frau Parvati im Himalaya auf dem Kailash wohnte, wurde sie hungrig und bat ihn um Nahrung. Aber Shiva hieß sie warten und versank in Meditation. Als der Hunger unerträglich wurde, fragte sie erneut: „Oh Vater des Universums, bitte gib mir Nahrung, ich kann nicht länger warten!“ Und als er nicht reagierte, sprach sie: „Nun gut, dann werde ich dich verzehren!“ Und daraufhin verzehrte sie Shiva, um ihren Hunger zu stillen. Doch sogleich stieg dunkler Rauch aus ihrem Körper, Shiva öffnete in ihrem Inneren das dritte Auge und sprach: „Ohne mich wird es keinen Geist (Purusha) mehr im Universum geben, sondern nur noch Natur (Prakriti)!“ - So wurde die Natur im Rauch der Illusion zur alten Witwe, dunkel, umwölkt, häßlich, schmucklos, mager und gebrechlich, mit ausgetrockneten Brüsten, hängendem Bauch, ausgefallenen Zähnen, wirrem Haar, verschrumpelter Haut und verbrauchter Kleidung. Sie verliert das dritte Auge und sitzt auf einem gebrechlichen Wagen, den niemand mehr zieht. Der Wagen steht unter dem Banner von Krähen, die als Aasfresser die Vergänglichkeit symbolisieren. In der einen Hand hält sie einen Worfelkorb und mit der anderen zeigt sie die Geste des Verlangens. Ihr Wesen ist derb, und sie ist fortwährend hungrig, durstig und unzufrieden:

Eine seltsame Geschichte, die uns aber irgendwie bekannt vorkommt. Ist das vielleicht das große Geheimnis unserer technischen Revolution? Haben wir nicht auch im unersättlichen Hunger nach Greifbarem die Natur ihres Geistes beraubt?

Nun wollen wir sehen, wie es weiter geht. Der Worfelkorb ist ein Symbol, das heutzutage kaum noch geläufig ist. Damit wurde schon seit Urzeiten nach dem Dreschen der Ähren die Spreu vom Getreide getrennt. Dazu benutzte man die Hilfe des Windes, der die leichtere Spreu erfaßt und davontreibt. Ein wunderbares Symbol für die Suche nach dem wahren Kern und die Wege des Karmas:

8. Bagalamukhi - mit dem „Reiher-Kopf“ - der Tod: Die Geschichte von Dhumavati geht weiter, und es wird erzählt, daß Parvati, die Shiva verschlungen hat, Bagalamukhi heißen soll, weil sie in ihrem großen Hunger ihren Mann im Ganzen verschlungen hat, wie ein Reiher („baka“) einen Fisch:

So sieht man nun auf dem achten Bild die ehemalige Bhairavi in gelbe Kleider gehüllt, die dem Schnabel eines Reihers gleichen, wie sie von einem Toten getragen wird und selbst die Keule des Todes schwingt. Was soll man auch erwarten, wenn der Geist in der Natur getötet wird, dann wird auch die Natur mit dem Tod drohen. Und wen trifft es am härtesten? Natürlich jene, die in ihrer Begierde den Geist töten. Das klingt zunächst paradox, aber wird verständlich, wenn man die Einheit von Ich, Geist und Natur erkennt. Wem dieses Bewußtsein fehlt, der trennt sich ab, nährt sein Ego, und diese Illusion bringt Alter und Tod. Die Natur greift ihn dann körperlich an.

In unserem Bild ergreift sie die Zunge. Die Zunge ist ein sensibles Organ und ein umfangreiches Symbol. Denken wir neben dem Geschmack an die Kommunikation, an Wahrheit und Lüge, an Redekunst und Poesie, die früher ein Ausdruck hoher geistiger Entwicklung war, und natürlich an die Macht, andere zu agitieren und ihnen zu befehlen. So hat diese Göttin die mystische Kraft, zu lähmen, die Sprache zu rauben und mit dem Schlag ihrer Keule sogar den ganzen Körper:

Der Mensch, der an dieser Zunge hängt, wird im Grün der Hoffnung, aber auch in der dunklen Farbe der Illusion dargestellt, in leidenschaftlich rotem Gewandt und mit Schwert und Schild bewaffnet. Ist damit unser Ego gemeint, das im Tod auf seinen härtesten Gegner trifft? Hier scheint die Natur mit unfairen Mitteln zu kämpfen, in diesem Bild der Griff nach der Zunge und die mystische Kraft zu lähmen. Das ist wohl kein Zufall, denn das Ego scheint das einzigste Wesen zu sein, das man mit unfairen Mittel besiegen kann. Dies ist eine große Mystik, die uns in vielen alten Geschichten begegnet. Denken wir im Mahabharata an die Lüge von Yudhishthira im Kampf mit Drona oder den Keulenkampf zwischen Bhima und Duryodhana, oder auch im Ramayana der Kampf des jungen Rama gegen die Dämonin oder wie Rama den Affenkönig Bali aus dem Hinterhalt mit einem Pfeil tötet.

Die Zunge ist auch ein Symbol der vielfältigen Begriffe. Solange man die Dinge getrennt voneinander betrachtet, kann man endlos darüber reden. Je mehr man sie im Einen vereint, wird die Zunge gelähmt und man muß schweigen. In diesem Schweigen reift die große Erkenntnis.

9. Matangi - die den Elefanten zügelt - die Erkenntnis: Wir sehen die juwelengeschmückte Göttin in ihrer vollkommenen Gestalt, sechzehn Jahre alt, mit dem dritten Auge des Geistes, mit blankem Schwert, Keule, Schlinge und Elefantenhaken. Ihr Körper ist grün oder blau, sie sitzt auf einem Thron, und vor ihr liegt eine Laute:

Folgende Geschichte wird über sie erzählt: Eines Tages saß Parvati auf dem Schoß von Shiva, und obwohl sie alles von ihm bekam, wünschte sie sich, das Haus ihres Vaters zu besuchen. Shiva war nicht erfreut und bat sie, bald wiederzukommen, ansonsten würde er sie selbst zurückholen. Parvatis Mutter sandte einen Reiher, der Parvati abholte. Und als sie nach einigen Tagen nicht zurückkehrte, verkleidete sich Shiva in einen Schmuckverkäufer der niederen Kaste, klopfte am Hause des Himalaya an und bot Parvati schönsten Schmuck an. Parvati wählte aus und fragte nach dem Preis. Darauf antwortete der Händler, daß er ihr den Schmuck schenken würde, wenn sie bereit wäre, ihm ihre Liebe zu schenken. Parvati war zuerst erschüttert, aber dann erkannte sie mit geistiger Sicht ihren Ehemann unter der Verkleidung, lächelte und sprach: „Aber ja, nur hab etwas Geduld!“ Darauf zog sich Shiva zurück und wartete im Wald. Nun nahm Parvati ihrerseits die Gestalt einer schönen Jungfrau an, ein Mädchen des Waldes von den niederen Chandalas, begab sich zu Shiva und tanzte vor ihm mit verführerischen Gesten. Und Shiva fragte: „Wer bist du und warum kamst du hierher?“ Sie antwortete: „Ich bin ein Chandala-Mädchen und gekommen, um Buße zu üben.“ Darauf sprach er: „Ich bin Shiva und gewähre die Früchte der Buße. Vereinige dich mit mir, und du wirst Parvati gleich werden. Daran gibt es keinen Zweifel.“ Da erkannte Parvati, daß Shiva ihre Verkleidung durchschaut hatte, verneigte sich und antwortete voller Freude: „Oh großer Gott, niemand kann sich vor dir verkleiden.“

Dies ist eine wunderbare Geschichte, wie die Natur den Geist unter jeder Verkleidung erkennt und umgekehrt auch der Geist die Natur durchschaut, und das Reine auch in dem erkennt, was äußerlich als unrein gilt. Dazu trägt sie nun das Symbol der blanken Keule, welche die Kruste der Illusion zerschlägt und ein reines Schwert, das Schwert der Erkenntnis, an dem kein Blut mehr haften kann, weil es alles durchdringt. In den unteren Händen hält sie noch Elefantenhaken und Schlinge, und auch ihr Name deutet auf den Elefanten hin, der zunehmend gezügelte Geist, der zur Ruhe kommt, wie ein reiner und stiller See, so daß man bis auf den Grund schauen kann.

Ihr Schmuck sind die Juwelen, die alle Wünsche erfüllen können. Ihr Haar ist betont ungebunden, ein Symbol, das sich durch alle Mahavidyas zieht und verschiedenartig gedeutet werden kann. Zum einen als Symbol der Unreinheit, die am Ende der Mahavidyas mit Kamala verschwindet. Denken wir an das Zeichen indischer Frauen während ihrer Menstruation oder an die verunreinigte Draupadi im Mahabharata. Zum anderen als Symbol für die beständige, intime und ekstatische Vereinigung mit dem männlichen Wesen, dem Gott, ihrer Hingabe und ihres ununterbrochenen Opfers. Das heißt, unter ihrer äußeren Hülle ist die Natur immer mit dem Geist vereint, untrennbar verbunden, das Ewig-Eine. Dagegen sehen manche in den aufgelösten Haaren auch einen Ausdruck von ungebundener Freiheit, die alle Schranken überschreiten kann, was als Freiheitsbegriff relativ modern klingt und sehr an Zügellosigkeit erinnert, die nun wiederum ein Ausdruck der Trennung vom männlichen Wesen wäre. Darüber hinaus sind die Haare natürlich auch die Fühler des Körpers. Unsere alten Hexen trugen ihre Haare oft ungebunden, um sich mit der Geisterwelt zu verbinden. Dagegen war es in der sozialen Öffentlichkeit eher angebracht, die Haare zu bedecken oder zu binden. Die schwarze Farbe des Haares deutet auf den grenzenlosen Raum und die Unendlichkeit, denn Schwarz ist die All-Farbe, in der alle Farben verschwinden.

Grün ist die Farbe des Waldes, des Wachstums, der Natur und der natürlichen Hoffnung, die uns interessanterweise auch im Ego-Wesen des vorhergehenden Bildes begegnet. Auf anderen Bildern hat sie einen blauen Körper. Blau ist die Farbe des Windes, der Leichtigkeit, des Himmels und der himmlischen Hoffnung. Sie trägt einen weißen Schädel als Symbol geistiger Reinheit und zeigt die Geste des Schutzes. Die schwarzen Krähen haben sich in grüne Papageien verwandelt, und sie spielt die Laute als Symbol für das wunderbare Spiel das Lebens (Lila). So erinnert sie an Sarasvati, die Göttin des Lernens, und man sagt, sie verleiht die 64 geistigen Künste, vom Singen über Tanzen, Malen, Schreiben, Magie, Wohlgefallen, Schönheit bis zum Gewinnen von Reichtum - also alles, um in dieser Welt glücklich zu sein:

10. Kamala - die reine Liebe oder Lotusgöttin - die Befreiung: Sie ist wunderschön, lächelt und hat eine goldene Ausstrahlung. Mit ihren vier Händen hält sie zwei Lotusblüten und zeigt die Gesten des Schutzes und des Segnens. Haken und Schlinge sind verschwunden, der Elefant des Geistes ist beruhigt und durch reine Erkenntnis von Illusion befreit. So erlöst er nun auch die Natur und badet und reinigt die Göttin auf dem hellroten Lotus der Schöpfung mit dem Nektar der Unsterblichkeit:

Der Name Kamala stammt von der Wurzel „Kama“, die Liebe, wird aber auch für eine hellrote Lotusblüte verwendet, ein Symbol der Reinheit. Viele sehen in ihr die Göttin Shri oder Lakshmi, die jeglichen Reichtum und das große Wohlergehen gewährt. Sicherlich, die reine Liebe kann das erreichen, vereint mit einem reinen Geist wird die Natur zum reinen Paradies. OM

Zusammenfassend kann man sagen, daß die zehn Mahavidyas einer Bildergeschichte über das Wesen der Natur gleichen, symbolisch angelehnt an die menschliche Entwicklung von der Zeugung über die Schwangerschaft, Kindheit, Jungfrau, Ehefrau, Mutter und Witwe bis zum natürlichen Tod oder über den Tod des Egos zur erwachenden Erkenntnis, zur Befreiung und zum ewigen Leben.

Dies sind nur einige, persönliche Gedanken aus der Betrachtung und dem Bedenken der Symbolik. Ob es jemals eine umfassende Schrift zur Erklärung dieser Bilder der Mahavidyas gab, ist unklar. Vermutlich wurden sie als eine Bildergeschichte überliefert und benutzten natürlich die allgemeinen Symbole der damaligen Zeit, die uns heute nur noch wenig geläufig sind. Viele weitere, detaillierte Informationen findet man im Internet oder auch in dem wissen-schaftlichen Buch „Tantric Visions of the Divine Feminine - The Ten Mahavidyas“ von David Kinsley. Aber eigentlich sprechen die Bilder für sich, und ehrlich gesagt, all die vielen Informationen machen es nicht wesentlich einfacher, in dieser Vielfalt das Ganze zu finden, das Eine, das sich hinter Shiva und Parvati verbirgt, hinter Gott und Göttin und all diesen vielfältigen Erscheinungen von Geist und Natur.


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