Saunaka sprach:
Oh kluger Suta, du bist höchst gesegnet und allwissend. Durch deine Gunst überkommt mich der Frieden wieder und wieder. Mein Geist erfreut sich so sehr an den alten Geschichten, so bitte, erzähle noch eine, welche die Hingabe zu Shiva vermehrt. In dieser Welt gibt es kaum Nektar zu trinken, der zur Befreiung führt. Doch wer den Nektar einer Geschichte über Shiva aufnimmt, der nähert sich zweifellos der Erlösung. Du bist so gesegnet, gesegnet und immerfort gesegnet. Und gesegnet sind die Geschichten über Shiva, die zu Shiva führen.
Suta sprach:
Oh Saunaka, so höre, was ich dir erzähle. Zwar ist dies ein großes Geheimnis, doch du bist einer der Besten unter den Vedengelehrten und ein wahrhafter Anhänger von Shiva.
Es gab da ein Dorf am Meer namens Baskala, in dem sündige Menschen in Unkenntnis der Veden lebten. Es waren hinterhältige Lüstlinge, Gottverächter, Bauern unter Waffen und ehebrecherische Schurken. Sie wußten nichts über Wahrhaftigkeit, Enthaltsamkeit oder Tugend. Sie waren brutal und suhlten sich in lasterhaftem Geschwätz. Die Menschen dort mißachteten die Pflichten ihre Kaste, schätzten nur weltliche Vergnügen und waren böse miteinander. Auch die Frauen waren tückisch, sündig und schamlos lüstern. Ihr niederträchtiger Charakter ließ sie alle Moral vergessen, und sie kannten kein gutes oder gezügeltes Betragen. In diesem Dorf lebte unter üblen Menschen ein ebenso übler Brahmane namens Binduga. Er war ein sündiger Schurke auf Abwegen. Obwohl er eine wunderschöne Ehefrau hatte, verliebte er sich in eine Prostituierte, und diese Wollust hielt seinen Verstand völlig gefangen. Er ließ seine hingebungsvolle Gattin Cancula im Stich, und verlor sich in sexuellen Ausschweifungen mit seiner Dirne, völlig überwältigt von den Pfeilen des Liebesgottes. So vergingen einige Jahre, ohne daß er von seinen sündigen Taten irgend abließ. Um ihre Keuschheit und Treue zu bewahren, zügelte sich Cancula eine Weile, obwohl auch sie von den Pfeilen des Liebesgottes schwer getroffen war. Doch als ihre Jugend mehr und mehr erblühte, und der Hunger nach Liebe und Sinnlichkeit in ihr immer stärker wurde, da konnte sie die Unerfülltheit ihrer Wollust nicht mehr ertragen und verließ ihren bis dahin tugendhaften Pfad. Ohne, daß ihr Ehemann etwas bemerkte, verbrachte sie nun die Nächte mit einem ebenso sündhaften Liebhaber. Doch eines Nachts entdeckte ihr Ehemann das Verhältnis und erwischte die beiden in eindeutiger Umarmung. Als er sein Weib dermaßen entehrt sah, erhob sich in Binduga der Zorn, und er begann zu wüten. Der feige Liebhaber nahm sogleich Reißaus, und Binduga stürzte sich auf seine Frau, schlug und beschimpfte sie hart und grob. Doch auch Cancula wurde unter den Schlägen ihres Ehemannes sehr wütend und schrie ihn an.
Cancula sprach:
Mit deinem faulen Geist schläfst du jeden Tag mit deiner Hure. Mich, deine Gattin, hast du abgelehnt, obwohl ich mit meinem jugendlichen Körper dir immer zur Freude dienen wollte. Ich bin jung, schön, voller Lebens- und Liebeslust. So sage mir, was soll ich tun, wenn mir mein eigener Ehemann die Erfüllung aller lustvollen Wünsche abschlägt? Die Schmerzen der Leidenschaft waren unerträglich, und ich wußte keinen anderen Weg.
Als der verdorbene Binduga die Worte seiner Gattin vernahm, beruhigte er sich und antwortete ihr töricht und ohne seine eigenen Pflichten zu kennen.
Binduga sprach:
Ja, es ist wohl so, wie dein durch Lust bewegter Geist es ausspricht. So höre, was ich dir zu deinem eigenen Wohle raten werde. Hab keine Angst, liebe Frau. Mach nur immer weiter so, amüsiere dich mit vielen Männern, und sorge dich nicht. Zieh ihnen nur immer viel Reichtum aus der Tasche, und gib ihnen dafür viel Vergnügen. Dann übergibst du allen Reichtum mir. Du weißt ja, daß ich meine Dirne begehre. Und so ist uns beiden geholfen.
Suta fuhr fort:
Cancula freute sich über diese Worte und stimmte dem boshaften Plan zu. So ging es fort mit den beiden auf ihrem schändlichen Weg, und eine lange Zeit verging mit üblen Taten. Nach vielen Jahren starb Binduga, der Brahmane mit der Shudra Geliebten, und fiel in die Hölle. Dort mußte der törichte Mann viel Leid und Qual erdulden, bis er als Geist in die Vindya Berge kam, um dort nur weiter sündhaft und grausam zu leben. Cancula blieb nach dem Tod ihres Ehemannes mit ihren Kindern in seinem Haus wohnen, und führte ihr Leben mit vielen Liebhabern fort, bis ihre anziehende Schönheit verging. Eines Tages geschah es, denn der göttliche Plan wollte es so, daß sie an einem glücksverheißenden Tag mit ihren Kindern zum Gokarna Tempel ging (ein Shiva geweihter Pilgerort nahe Mangalore). Zufällig spazierte sie herum und nahm ihr tägliches Bad in einer heiligen Wasserstelle, ohne es auch nur zu ahnen. Und dann hörte sie stückweise, wie in einem der Tempel ein Lehrer mit himmlischer Weisheit einen Diskurs über die heilige Geschichte des Shiva Puranas leitete. Der Teil, der ihr Ohr erreichte, handelte davon, daß die Diener Yamas einer Frau, die mit einem Geliebten schläft, ein glühend heißes Eisen in die Vagina einführen würden. Das Beispiel hatte der Lehrer angeführt, um die Enthaltsamkeit zu fördern, und Cancula erbebte vor Angst. Am Ende der Belehrung, als alle Schüler gegangen waren, trat die panisch zitternde Frau vor den gelehrten Brahmanen hin und sprach zu ihm im Vertrauen.
Cancula sprach:
Oh edler Herr, bitte höre von meinen schändlichen Taten, die ich beging, ohne von meinen wahren Pflichten zu wissen. Und wenn du mich angehört hast, dann zeige Mitgefühl und erhebe mich, oh Herr. Mit gräßlich verwirrtem Geist habe ich eine große Sünde begangen. Von Wollust geblendet habe ich meine Jugend in ungezügelter Prostitution verschwendet. Heute habe ich von dir etwas über Nichtanhaftung gelernt, und nun ängstige ich mich schrecklich und zittere heftig. Schande über mich, mich törichte Sünderin, eine der Wollust hingegebene Frau, so tadelnswert, an den Vergnügungen der Welt klebend und ganz gegen meine Pflichten handelnd. Unwissend habe ich eine große Sünde begangen, die nun fürchterliche Folgen haben wird. Und das alles für einen flüchtigen Moment oberflächlichen Vergnügens. Welch Verbrechen! Weh, ich weiß nicht, auf welchen gräßlichen Pfad mich das führen wird. Mein Geist war wohl schon immer zu unheilsamen Dingen geneigt. Wird ein weiser Mensch zu meiner Rettung kommen? Wie soll ich im Moment des Todes den schmerzhaft strafenden Dienern Yamas entgegensehen? Wie werde ich mich fühlen, wenn ihre Schlinge sich fest um meinen Hals legt? Wie soll ich es ertragen, wenn in der Hölle mein Körper in Teile geschnitten wird? Wie kann ich diesen unerträglichen Schmerz nur aushalten? Ich beklage mein Los. Denn wie ist es möglich, meine täglichen Handlungen in Frieden mit meinen Sinnesorganen auszuüben? Und in Elend versunken wird mich der ruhige Schlaf des Nachts nun meiden. Weh, ich bin erledigt! Ich brenne. Mein Herz zerfällt in Stücke. Auf jede Weise bin ich verdammt! Ich bin eine Sünderin. Oh widriges Schicksal! Du hast meinen Geist auf üble Pfade geführt. Mit hassenswerter Sturheit ließest du mich eine große Sünde begehen. Ich wurde vom Pfad der Pflicht weggezogen, der mir wahres Glück bereitet hätte. Oh Brahmane, die Pein, die ich gerade fühle, ist millionenmal größer, als wenn man mich von einem Berg stieße oder pfählen würde. Meine Sünde ist so groß, niemals kann sie abgewaschen werden. Nicht einmal mit Waschungen in der Ganga für hundert Jahre oder hunderten von Opfern. Was soll ich tun? Wohin soll ich gehen? Bei wem Zuflucht suchen? Ich werde in die Tiefen der Hölle stürzen. Wer in dieser Welt kann mich retten?
O edler Herr, du bist mein Lehrer. Du bist meine Mutter und mein Vater. Ich suche Zuflucht bei dir. Ich bin so tief gesunken. Bitte erhebe mich, oh hilf mir.
Suta fuhr fort:
Und der Brahmane nahm sich ihrer mitfühlend an, als sie vor seinen Füßen niederfiel. Er hob Cancula auf und sprach zu ihr folgende Worte.