Krishna sprach:
Oh heiliger Herr, ich habe gehört, wie das Universum von den Verkörperungen des unermeßlich strahlenden Shivas durchdrungen ist. Nun möchte ich noch von der innersten Natur des großen Gottes und seiner Göttin erfahren. Wie herrschen sie über das Universum, welches sowohl männliche als auch weibliche Eigenschaften hat?
Upamanyu antwortete:
Ich kann dir nur kurz die herrliche Größe und innerste Natur von Shiva und Shakti erklären, denn niemand könnte es in genaue Worte fassen, nicht einmal Shiva selbst. Shakti ist Mahadevi, die große Göttin, und Mahadeva hat die Shakti inne. Das ganze Universum mit allen Wesen darin ist nur ein Teil ihrer herausragenden Herrlichkeit. Manche Wesen verfügen über Bewußtsein (chit) und manche nicht (achit). Doch jedes Wesen kommt in zweifacher Weise vor: Suddha (rein) und Para (eins) und Asuddha (unrein) und Apara (getrennt). Das Rad des Bewußtseins, welches sich in der weltlichen Existenz dreht, und das Rad des Unbewußten - das ist Asuddha und Apara (unrein und getrennt). Das andere (Bewußte, der weltlichen Existenz nicht mehr Verhaftete) ist Suddha und Para (rein und das Eine). Sowohl Bewußtes als auch Unbewußtes, sei es eins oder getrennt, alles unterliegt der natürlichen Herrschaft von Shiva und Shakti. Doch Shiva und Shakti unterliegen keiner Herrschaft. Sie sind die Herrscher des Universums.
So wie Shiva ist, so ist die Göttin, und die Göttin ist wie Shiva. Man sollte sich keinen Unterschied zwischen den beiden vorstellen, so wie bei Mond und Mondlicht. So wie der Mond ohne sein Licht nicht scheinen kann, so strahlt Shiva nicht ohne seine Shakti. Die Sonne gibt es nicht ohne ihr Licht, und auch das Sonnenlicht gibt es nicht ohne Sonne, so hängen Shakti und Shaktiman (wirkende Kraft und ursächliches Potential) voneinander ab. Es gibt keine Kraft ohne Potential, keine Shakti ohne Shiva, und umgekehrt. Die Shakti ist ursprünglich und einzig, trägt die Form von Bewußtsein und hängt von Shiva ab. Sie ist das Mittel, durch welches Shiva weltliche Erfahrungen und Erlösung gewähren kann. Die Shakti hat dieselben Eigenschaften wie Shiva, die große Seele. Die Shakti ist das gebärende Merkmal, sie erschafft das Universum mit allen Wesen auf Shivas Wunsch hin. Man nennt sie auch Mulaprakriti (Urmaterie), Maya (Illusion) oder Triguna (die drei Eigenschaften/Gunas). Das Universum wird von ihr geschaffen und durchdrungen. Tatsächlich ist sie eins, doch sie kann sich in zwei, hundert oder tausende Funktionen und Gestaltungen vervielfachen.
In einem Bewußtsein vereint mit Shiva manifestiert sich die große Shakti zu Beginn der Schöpfung auf seinen Wunsch hin, wie das Öl vom Sesam tropft. Wird in der Shakti die Kriya Shakti (Tatkraft, Kreativität) aktiv, die aus dem Potential Shaktiman kommt, dann erklingt der urerste Klang als Erstes in der Schöpfung.
(Yoga Vidya: Die göttliche Mutter, die Göttin, manifestiert sich als Jnana Shakti, Iccha Shakti und Kriya Shakti in jedem Menschen: Jnana Shakti ist die Kraft der Erkenntnis. Iccha Shakti ist die Kraft des Wollens. Kriya Shakti ist die Kraft des Tuns.)
Aus Bindu (dem Samen, dem Unmanifesten, und der Punkt über dem OM-Zeichen) entsteht Nada (der Klang), daraus Sadashiva, aus ihm Maheshvara und aus ihm Suddhavidya (die Ursache für wahres Wissen). Das ist die Göttin der Rede, die Shakti von Shiva wird dann auch Vagisha genannt, und in Gestalt der Buchstaben ist sie als Matrika bekannt.
Indem das Unendliche einfließt, erschafft die Maya (Illusions- und Schöpferkraft) Kala (Zeit), Niyati (Bestimmung), kala (Abschnitt, Teil) und Vidya (Wissen), und durch Kala werden Raga (Liebe, Freude, Melodie…) und Purusha (Geist) erschaffen. Aus Maya stammt auch das Manifeste, welches aus den drei natürlichen Eigenschaften, den Gunas, besteht. Aus dem Formlosen, dem Avyakta, lösen sich die drei Gunas und werden unterscheidbar in Sattwa, Rajas und Tamas - Güte, Leidenschaft und Unwissenheit, welche das ganze Universum durchdringen. Dann, wenn die Gunas in Bewegung geraten, werden die drei Götter geboren sowie das Mahat (die kosmische Intelligenz) und die anderen natürlichen Prinzipien (Tattwas) in ihrer angemessenen Reihenfolge. Auf Geheiß von Shiva werden zahllose Samen geboren, über welche das Unendliche und andere Vidyeshas als Herrscher des Wissens regieren.
Weil die Körper so unterschiedlich erscheinen, meint man, die Shakti sei vielfältig. Es gibt grobstoffliche und feinstoffliche Körper in vielerlei Formen. Die Shakti von Rudra wird Raudri genannt, die von Vishnu Vaishnavi, die von Brahma Brahmani und die von Indra Aindri. Doch wozu so viele Worte? Was als Universum verherrlicht wird, ist von der Shakti durchdrungen wie der Körper von der ihm innenwohnenden Höchsten Seele. Alles und jeder im Universum ist mit Shakti angefüllt. Kala, die größte Shakti der Höchsten Seele (Atman), wird Para Shakti genannt. Sie folgt den Wünschen des Herrn und erschafft das belebte und unbelebte Universum.
Lord Shiva ist Shaktiman, der über die drei Shaktis des Wissens, der Handlung und des Wollens verfügt. Er durchdringt das Universum auf ewig und bleibt ewig. Und auf welche Weise zügelt der Herr alle Handlungen? Mit „Das soll so sein.“ und mit „Das soll nicht so sein.“.
Die Shakti des Wissens erscheint in Form von Erkenntnis (Buddhi) und bedingt Wirkung, Instrument, Ursache und Zweck. Die Shakti des Handelns in Gestalt der Wahrnehmung oder der Konzepte gestaltet und entwickelt die Wirkung - das Universum in der Art, wie es gewünscht und gebildet wird. Und wenn die dreifache Shakti sich erhebt, gebiert die Shakti des Wollens auf Geheiß der Großen (Parama) Shakti das Universum. Da Shiva immer in Verbindung mit der Shakti ist, wird er auch Shaktiman genannt. Das Universum wird aus beiden, Shakti und Shaktiman (wirkende Kraft und verursachendes Potential), gebildet. Man nennt sie auch Shakta und Shaiva. So wie ein Kind ohne Eltern nicht geboren wird, so kann das Universum ohne Shiva und Shakti nicht entstehen. Seine Quelle ist also sowohl männlich als auch weiblich, und so ist auch seine Natur männlich und weiblich. Mit ihrer übermenschlichen Macht beherrschen Shiva und Shakti als Männliches und Weibliches das Universum. Shiva ist die große Seele, und Shakti die große Kraft.
Sadashiva ist Shiva, und Manonmani ist Shakti, Maheshvara und Maya. Purusha (der Höchste Geist) ist der große Gott, und Prakriti (die Höchste Natur) die große Göttin. Rudra ist der Gott selbst, und Rudrani seine Gefährtin. Vishnu ist Lord Viveshvara, und Lakshmi seine Gefährtin. Wird Shiva zum Schöpfer ist er Brahma, und Brahmani ist seine Gefährtin. Die Sonne ist Lord Shiva, und sein Licht ist Shakti. Shiva ist Mahendra (Indra), und Sachi ist Parvati. Der Feuergott ist Mahadeva, und Shakti ist Swaha. Yama ist Shiva, und Yami ist Shakti, die Tochter des Berges. Nirriti ist Lord Isha, Nairriti ist Shakti, Varuna ist Rudra, Varuni ist Shakti. Vayu ist der mondbekränzte Shiva, und seine Gattin ist Shakti, die Shivas Geist bezaubert. Das Opfer ist Shiva, der Vernichter des Opfers, und Riddhi ist Shakti. Der Mond ist Shiva, und Rohini ist Shivas geliebte Gefährtin. Ishana ist Shiva, und seine Arya ist die Göttin Uma. Ananta, der Schlangenkönig, ist Shiva, und Anantas Gefährtin ist die Göttin Parvati. Kalagnirudra ist Shiva, und Kali seine Gefährtin. Purusha Manu ist Shiva, und Satarupa seine Gefährtin. Daksha ist Lord Shiva selbst, und Prasuti ist Parameshvari. Ruchi ist Shiva, und Akuti ist Shakti. Bhrigu ist der Herr, der Bhagas Augen vernichtete, und Khyati ist die Gefährtin des dreiäugigen Herrn. Marichi ist Rudra, und Sambhuti ist Sarvas Gefährtin. Angiras ist Shiva, Smriti ist Uma. Pulastya ist der mondbekränzte Herr, und Priti seine Gattin. Pulaha ist der Vernichter von Tripura, und seine Gattin die geliebte Gefährtin Shivas. Kratu ist Shiva, der Vernichter des Opfers, Sannati ist seine Gefährtin. Atri ist der dreiäugige Gott, Anasuya ist Uma selbst. Kasyapa ist Shiva, und seine Gefährtin Shakti. Vasishta ist Shiva, und Arundhati die Göttin.
Alle Männer sind Shiva, und alle Frauen sind Maheshvari. Und daher sind alle Menschen Ausdruck ihrer erhabenen, göttlichen Macht.
Der Herr ist das Subjekt und seine Gefährtin das Objekt. Was gehört werden kann, ist eine Form der Göttin, und der Zuhörer ist Shiva, der Träger des Dreizack. Alles, was man erfragen kann, wird von Shivas Gefährtin erhalten, und der sich erkundigt, ist die universelle Seele Shiva mit der Mondsichel als Ornament. Die Shakti erhält alle Dinge, die man wahrnehmen kann, und der Wahrnehmende ist der Herr, Viveshwara selbst. Alle Dinge des Geschmacks sind mit der Göttin identisch, und der Schmeckende ist Shiva. Alle liebenswerten Dinge sind Shakti, und der Liebende ist Shiva. Die Göttin erhält alle Gedanken, und der Denkende ist der allesdurchdringende Herr. Was verstanden werden kann, ist die Göttin, der Verstehende ist der Herr selbst. Lord Shiva ist der Lebensatem aller Wesen, die Göttin steht für die vom Atem bewegten Körperflüssigkeiten in den Wesen. Shivas geliebte Gefährtin ist die Heimstatt der individuellen Seele, und Lord Shiva ist die individuelle Seele. Der Tag ist Shiva, die Nacht ist Shakti. Der Raum ist der Herr, die Erde seine Gefährtin. Der Ozean ist Shiva, das Ufer die Shakti. Der Baum ist der Herr mit dem Bullen im Banner, die Kletterpflanze ist seine Gefährtin. Der Gott trägt alle männlichen Wesen, die Göttin alle weiblichen. Shakti trägt die Wörter, und Shiva deren Bedeutung. Welche Kraft auf welches Objekt auch immer wirkt - das sind die Göttin und der Gott. Oh du Glücklicher, und was immer rein, großartig, heilig und glücksverheißend ist, ist der Ausdruck ihrer Herrlichkeit. Wie die Flamme in einer guten Lampe das Haus erhellt, so durchleuchtet ihr Glanz das Universum. Die Schriften sagen, daß alle Herrlichkeit des Universums, vom Grashalm bis zur Götterfigur Shivas, nur durch ihre Berührung existiert. Die beiden sollte man immer ehren, sich vor ihnen verbeugen und über sie meditieren, denn sie sind alles und segnen alles.
Oh Krishna, ich habe dir von der inneren Natur von Gott und Shakti erzählt, wie ich es vermag, doch ausschöpfen kann ich es nicht. Denn ihre Natur ist jenseits des menschlichen Verstandes. Wie könnte man das erklären? Es ist in Gedanken und im Bewußtsein ihrer Verehrer, wenn sie ihren Geist dem Hohen gewidmet haben und sich von nichts anderem ablenken lassen. Doch in anderen ist es nicht. Die wunderbare und übermenschliche Kraft, von der ich zu dir gesprochen habe, basiert auf Prakriti und ist ebenso großartig. Und wer dieses Geheimnis verstanden hat, der versteht auch das Geheimnis von Nicht-Prakriti, nämlich die übernatürliche Kraft des Herrn, vor der alle Wörter, die Sinnesorgane und das Denken zurückweichen müssen. Diese Macht des höchsten Gottes (Parameshthin) ist der größte Glanz, das größte Ziel und Höhepunkt von allem Erreichbaren. Wer Atem und Sinne gezügelt hat, strebt danach, um das Tor zum Gefängnis des Körpers zu verschließen. Wer diese übergroße Macht von Shiva und Shakti verinnerlicht hat, hat keine Angst mehr, denn sie ist die große Medizin, welche die Totgeweihten heilt, die von der Schlange der weltlichen Existenz gebissen wurden. Wer also Para und Apara verstanden hat (Eins-sein und Getrennt-fühlen), der geht jenseits des Getrennt- Seins in die glückselige Einheit ein.
Oh Krishna, nun habe ich zu dir vom innersten Wesen von Shiva und Shakti gesprochen, dieser beiden großen Seelen, obwohl es ein Geheimnis ist. Die Veden sagen, man sollte es niemandem erzählen, der weder Verehrer noch Schüler eines Verehrers ist. Doch du bist ein aufrechter Verehrer von Shiva. So erzähle es nicht allen und jedem, oh du von gutem Wohlstand, sondern nur den Würdigen, wie du einer bist. Und wer dieses heilige Wissen von Shiva und Shakti kompetenten Menschen aufzeigt, der wird vom Meer der weltlichen Existenz befreit und erlangt die Sayujya Befreiung, das Eingehen in die göttliche Essenz von Shiva. Wenn es aufgesagt wird, verschwinden Millionen Sünden, und wer es dreimal aufsagt, reinigt sich entsprechend noch mehr. Alle quälenden Feinde vergehen, Freunde vermehren sich, das Streben nach Erkenntnis floriert, und der Intellekt versenkt sich in Wahrheit. Die Hingabe an Shiva und Shakti, ihre Verehrer und ihr Gefolge wächst, und alle angenehmen Dinge kommen von allein. Man sollte es mit reinem Geist aufsagen, Hingabe an Shiva und voller Überzeugung. Falls man durch schwerwiegendes Karma keine Früchte erkennen kann, dann sollte man es immer und immer wieder rezitieren. Dann ist nichts unerreichbar.