Kanwa sprach:
Oh Bharata, alsbald hörte der mächtige Garuda davon, daß Indra der Naga Sumukha ein langes Leben gewährt hatte. Und zornig gereizt begab sich dieser Wanderer der Lüfte so schnell zu Indra, daß die drei Welten mit einem Orkan durch den Schlag seiner Flügel gequält wurden. Dann sprach Garuda: „Oh Berühmter, warum hast du mich übergangen und dich in meine Nahrungsbeschaffung eingemischt? Warum ziehst du jetzt den Segen zurück, den du mir nach deinem Willen gewährt hattest? Der Höchste Herr aller Wesen hat von Anfang an bestimmt, was meine Nahrung sein soll. Warum stellst du dich dieser göttlichen Ordnung in den Weg? Ich hatte diese große Naga ausgewählt und eine Zeit festgelegt, oh Gott, um das Fleisch seines Körpers meiner zahlreichen Nachkommenschaft als Nahrung anzubieten. Wenn er deshalb einen Segen von dir erhalten hat und damit unzerstörbar durch mich geworden ist, wie könnte ich es künftig wagen, einen anderen seiner Art zu töten?
Spielst du mit deiner Macht, oh Indra, wie es dir in den Sinn kommt? Ich zumindest werde auf diese Weise verhungern, so auch meine Familie und die Diener, die ich in meinem Haus verpflichtet habe. Ist das dein Wunsch, oh Indra? Wahrlich, oh Vernichter von Vala und Vritra, das verdiene ich nicht, auch wenn ich selbst zugestimmt habe, der Diener eines anderen zu sein, obwohl ich an Macht der Herr der drei Welten sein könnte. Oh Monarch, Vishnu ist wohl nicht der Einzige, dem ich als Untertan diene. Denn obwohl ich dir, oh Vasava, ebenwürdig bin, agierst du doch als Herrscher der drei Welten. Doch so wie du, oh Führer der Himmlischen, habe ich eine Tochter des Daksha zur Mutter und Kasyapa zum Vater. Wie du, kann ich auch ohne jede Erschöpfung das Gewicht der drei Welten tragen. Ich habe unermeßliche Kraft und bin unbesiegbar. Auch im Krieg mit den Daityas erreichte ich großartige Leistungen. Srutasri und Srutasena, sowie Vivaswat, Rochanamukha, Prasrura, Kalakaksha wurden unter den Söhnen der Diti von mir besiegt. Ich habe mich auf dem Fahnenmast des Wagens deines jüngeren Bruders (Vishnu) niedergelassen, und beschütze ihn sorgfältig im Kampf. Manchmal trage ich (als Reittier) sogar deinen Bruder auf meinem Rücken. Ist das vielleicht der Grund, warum du mich so mißachtest? Wer sonst in diesem Universum wäre dazu fähig, solch eine schwere Last zu tragen? Wer ist stärker als ich? Doch obwohl ich so stark bin, trage ich dennoch deinen jüngeren Bruder mit all seinen Freunden auf meinen Rücken.
Wenn du mich mißachtest, indem du mir meine Nahrung streitig machst, erniedrigst du mich, oh Indra, noch mehr als dein jüngerer Bruder, wenn ich ihn auf dem Rücken trage. Und auch du, oh Vishnu! Unter all jenen, die mit Heldenkraft und Stärke begabt sind und von Aditi geboren wurden, bist du der Mächtigste. Und trotzdem trage ich dich ohne jede Erschöpfung mit nur einer meiner Federn. Denke gut nach, oh Bruder, wer unter uns der Stärkere ist!
Kanwa fuhr fort:
Diese stolzen, zornigen und drohenden Worte dieses Wanderers der Lüfte hörend, sprach der Träger des Diskus, um ihn herauszufordern: „Warum betrachtest du dich als stark, oh Garuda, obwohl dir keine dieser Kräfte gehört? Oh eierlegendes Geschöpf, du solltest dich in unserer Anwesenheit nicht so rühmen. Die vereinten drei Welten könnten das Gewicht meines Körpers nicht tragen. Ich selbst trage mein Gewicht und das deine. Komm lieber Garuda, trage nur die Last dieses rechten Armes von mir. Wenn du sie ertragen kannst, dann könnte man deine Prahlerei als angemessen betrachten.“
So sprach der Göttliche und legte seinen Arm auf die Schultern von Garuda. Daraufhin fiel Garuda zu Boden, gequält vom Gewicht, verwirrt und seiner Sinne beraubt. Und er fühlte, daß dieser eine Arm von Vishnu ebenso schwer war, wie diese ganze Erde mit ihren Bergen. Aber der mit unvorstellbar größerer Kraft begabte Vishnu quälte ihn nicht noch mehr und schonte sein Leben. Der Wanderer der Lüfte rang unter dieser riesigen Last nach Luft und begann, seine Federn abzuwerfen. An allen Gliedern geschwächt und äußerst verwirrt, verlor Garuda beinahe sein Bewußtsein. Geschwächt und hilflos wie er war, verbeugte sich der geflügelte Nachkomme der Vinata mit gesenktem Kopf vor Vishnu und sprach zu ihm:
„Oh ruhmreicher Herr, die Essenz aller Kraft, welche das Universum stützt, wohnt in deinem Wesen. Kein Wunder, daß ich unter einem einzigen Arm von dir, den du zum Vergnügen ausstrecktest, zu Boden gedrückt wurde. Mögest du, oh göttlicher Herr, diesem geflügelten Wesen vergeben, das sich auf deinem Fahnenmast niederläßt, diesem Unwissendem, der vom Stolz seiner Kraft berauscht war, aber jetzt äußerst hilflos ist. Deine unermeßliche Kraft, oh Gottheit, war mir bisher nicht bewußt. Aus diesem Grund habe ich meine eigene Kraft als unübertrefflich betrachtet.“
So angesprochen war der berühmte Vishnu zufrieden und antwortetet Garuda voller Zuneigung: „Mögest du dich niemals wieder so verhalten.“ Mit diesen Worten hob Vishnu die Naga Sumukha mit der Zehe seines Fußes auf die Brust von Garuda. Und von dieser Zeit an, oh König, lebte Garuda in beständiger Freundschaft mit dieser Schlange. So geschah es, oh König, daß der mächtige und berühmte Garuda, der Sohn der Vinata, von seinem Stolz geheilt wurde, nachdem er Vishnus Macht erfahren hatte.
Kanwa fuhr fort:
Oh Sohn von Gandhari, ebenso lebst du, oh Duryodhana, in deinem Stolz, so lange du nicht den heroischen Söhnen des Pandu im Kampf begegnest. Wen könnte Bhima, der Erste der Kämpfer und mächtige Sohn von Vayu, oder Dhananjaya, der Sohn von Indra, im Kampf nicht besiegen? Vishnu selbst, sowie Dharma, Vayu, Indra und die Aswin Zwillinge, diese Götter wählst du als Feinde. Schon ihren Anblick wirst du auf dem Kampffeld kaum ertragen, geschweige denn einen Kampf mit ihnen. Deshalb, oh Prinz, strebe nicht nach diesem Krieg! Laß durch die Vermittlung von Vasudeva Frieden entstehen. Es ziemt sich für dich, damit dein Geschlecht zu retten. Dieser große Asket Narada bezeugte mit seinen eigenen Augen das Ereignis (wovon er berichtete), welches die Größe von Vishnu aufzeigte. Wisse, daß Krishna dieser Träger von Diskus und Keule ist!
Vaisampayana fuhr fort:
Diese Worte des Rishi hörend, zog Duryodhana seine Augenbrauen zusammen und begann schwer zu atmen. Dann richtete er seine Augen auf den Sohn von Radha und platzte mit einem lauten Gelächter heraus. Und indem er die Worte des Rishis als sinnlos verwarf, begann dieser Übelgesinnte vergnügt auf seine Schenkel zu schlagen, die dem Bein eines Elefanten ähnelten. Dann sprach er zum Rishi: „Ich bin, oh großer Rishi, genau so, wie mich der Schöpfer geschaffen hat. Was sein soll, muß sein! Was auch immer in meinem Fall bestimmt worden ist, muß geschehen. Ich kann nicht anders handeln. Was für einen Nutzen soll dieses endlose Gerede haben?“