Pushpak Mahabharata Buch 12Zurück WeiterNews

Kapitel 321 - Die Geschichte vom König und der Bettelnonne Sulabha

Yudhishthira fragte:
Oh königlicher Weiser der Kurus, gelangte jemals ein Mensch ohne das Hausleben aufzugeben zur Befreiung, welche doch die Loslösung vom gewöhnlichen Verstand (und allen anderen natürlichen Prinzipien) ist? Das sage mir! Wie kann man den grobstofflichen und feinstofflichen Körper überwinden? Oh Großvater, bitte belehre mich über das höchste Ziel der Befreiung.

Bhishma sprach:
Diesbezüglich, oh Bharata, wird eine alte Geschichte über ein Gespräch zwischen Sulabha und dem König von Mithila erzählt. Vor langer Zeit gab es in Mithila einen König namens Dharmadhvaja aus dem Stamme von Janaka. Er war dem Weg der Entsagung gewidmet, in den Veden und anderen heiligen Schriften über die Befreiung wie auch in den Geboten bezüglich seiner Aufgaben als König wohlerfahren. Er zügelte seine Sinne und herrschte über sein irdisches Reich. Sein tugendhaftes Verhalten sprach sich in der Welt herum, und viele weise Menschen folgten ihm nach. In dieser goldenen Zeit übte auch eine Bettelnonne namens Sulabha die Aufgaben des Yogas und wanderte über die ganze Erde. Und im Laufe ihrer Wanderung hörte sie von vielen Wanderasketen an verschiedenen Orten, daß der Herrscher von Mithila dem Weg zur Befreiung hingegeben war. Da fragte sich Sulabha, ob diese Gerüchte wahr sind, und beschloß, den König zu besuchen. Dazu verließ sie durch ihre Yogamacht ihre alte Gestalt und nahm eine neue an mit makellosen Eigenschaften und unvergleichlicher Schönheit. Im Handumdrehen und so schnell wie ein Pfeil begab sich dann die lotusäugige Dame zur Hauptstadt der Videhas. In dem lieblichen Mithila angekommen, wo es von Bewohnern wimmelte, ging sie als Bettlerin und stellte sich dem König vor. Als der Monarch ihre vorzügliche Gestalt sah, wurde er von Bewunderung erfüllt und fragte, wer sie sei, wem sie gehöre und woher sie komme. Er begrüßte sie, wies ihr einen ausgezeichneten Sitz zu und ehrte sie mit dem Wasser zum Waschen ihrer Füße sowie mit vorzüglichen Speisen und Getränken. Als Sulabha erfrischt und mit den Riten der Gastfreundschaft zufrieden war, begann sie den König, der von seinen Ministern umgeben war und in der Mitte von Brahmanen saß, zu erproben. Zweifelnd, ob der König in seiner Pflichterfüllung den Weg der Nichtanhaftung gehen konnte, trat Sulabha durch ihre Yogamacht mit ihrem Geist in das Bewußtsein des Königs ein. Mit dem strahlenden Licht ihrer Augen ergriff sie seine Augen, und um die Wahrheit zu fördern, band sie den König mit ihrer Yogakraft. Der Monarch lächelte überlegen zurück und begegnete ihrer fesselnden Konzentration mit seiner eigenen Geisteskraft. So trafen sich beide in ihrer feinstofflichen Form, der König ohne seinen königlichen Schirm und Zepter und die Dame Sulabha ohne ihren Bettelstab. Höre nun ihr Zwiegespräch, was sich daraufhin im Kopf des Königs ergab.

Dharmadhvaja („der das Dharma als Banner trägt“) sprach:
Oh heilige Dame, welchen Weg der Tugend gehst du? Wem gehörst du und woher bist du gekommen? Wenn du dein Ziel hier erreicht hast, wohin wirst du gehen? Keiner kann ohne Befragung den anderen kennenlernen, seine Gelehrtheit, sein Alter oder seine Familie. Mögest du mir deshalb auf meine Fragen antworten, da du zu mir gekommen bist. Du siehst, daß ich in Wahrheit von jeder Anhaftung am königlichen Schirm und Zepter frei bin. Du verdienst meinen ganzen Respekt, und ich wünsche, dich zu ehren. So höre mich, wie ich zu dir über den Weg der unvergleichlichen Befreiung spreche und von wem ich einst dieses außerordentliche Wissen empfangen habe. Ich bin der geliebte Schüler des hochbeseelten und ehrwürdigen Panchasikha, der den Bettelmönchen angehört und ein Nachkomme des Parasara ist. Durch seinen Segen habe ich auf dem dreifachen Erlösungsweg des Sankhya Wissens, der Yoga Übung und der königlichen Pflichterfüllung alle Zweifel in mir überwunden. Während der weise Panchasikha über die Erde wanderte und den Pfad ging, den die heiligen Schriften gebieten, wohnte er während der Regenzeit vier Monate lang in meinem Haus. Während dieser Zeit belehrte mich dieser Erste der Sankhyas entsprechend der Wahrheit und auf verständliche Weise nach meinen Fähigkeiten über die verschiedenen Mittel auf dem Weg zur Befreiung, ohne mich zu bedrängen, diese Königsherrschaft aufzugeben. So lebe ich nun frei von Anhaftung, gegründet im Höchsten Brahman und unbewegt von der Gesellschaft, und übe vollständig diesen dreifachen Weg, wie er mir zur Befreiung gelehrt wurde. Entsagung (von jeglicher Anhaftung) ist dabei das wichtigste Mittel zur Befreiung. Diese befreiende Entsagung fließt aus der Erkenntnis des Selbst oder der Höchsten Seele. Die Selbsterkenntnis fließt aus dem Yoga des Handelns, der wiederum aus dem Wissen (des Sankhya) fließt. Durch Selbsterkenntnis überwindet man die Gegensätze von Glück und Leid, wodurch der Tod besiegt und das Höchste erreicht wird. Es ist Vollkommenheit, die höchste Erkenntnis jenseits aller Gegensätze, die ich erreicht habe. Noch in diesem Leben wurde ich von Unwissenheit befreit und allen Anhaftungen erlöst.

Wie die Erde, wenn sie gewässert und aufgeweicht wurde, den Samen keimen läßt, so verursacht das Karma der Taten unter entsprechenden Bedingungen die Wiedergeburt. Und wie der im Feuer verbrannte Samen nicht mehr keimen kann, obwohl er das Potential dazu hatte, so ist auch mein Geist von der Begierde als Potential des Werdens befreit worden. Dank der Belehrung des heiligen Bettelmönches Panchasikha (der „Flamme“) hat mein Geist seine Fruchtbarkeit in Form der Anhaftung an die Sinnesobjekte verloren. So bin ich weder an die Liebe zu meinen Gattinnen noch an den Haß gegen meine Feinde gebunden. Wahrlich, ich habe beides überwunden (Begierde und Haß), als ich die Essenzlosigkeit der Anhaftung und des Zorns erkannt habe. Ob mir jemand meine rechte Hand mit Sandelholzpaste bestreicht oder meine linke verwundet, ich betrachte sie als Eins. Das wahre Ziel habe ich erreicht, bin selig und schaue mit gleichem Auge auf eine Erdscholle, einen Stein oder einen Goldklumpen. So bin ich von allen Anhaftungen befreit, obwohl ich auch weiterhin die Herrschaft im Königreich bewahre, und stehe den besitzlosen Bettelmönchen in nichts nach. Die Menschen, die wahrlich mit dem Weg der Befreiung bekannt sind, bezeichnen die Befreiung als dreifachen Pfad (Erkenntnis, Entsagung und Handeln). Manche Gelehrten sehen den Weg des Wissens als Mittel der Befreiung, manche Asketen den vollkommenen Verzicht auf alle Taten, manche Yogis die höchste Sicht und andere Yogis mit tiefer Einsicht loben das Handeln. Der hochbeseelte Panchasikha verwarf jedoch alle einseitigen Wege bezüglich des Handelns oder der Erkenntnis und betrachtete den dreifachen Pfad als bestes Mittel zur Befreiung. Wenn Menschen, die ein Hausleben führen, Entsagung und Erkenntnis erreichen, werden sie den besitzlosen Bettelmönchen, den Sannyasins, gleich. Wenn dagegen die Sannyasins Verlangen und Abneigung, Besitz, Ehre und Stolz hegen, werden sie zu gewöhnlichen Hausvätern. Wenn man zur Befreiung durch Erkenntnis gelangen kann, und der Mönch mit dem Bettelstab diesen Weg geht, warum nicht auch der König mit Schirm und Zepter? Wird der Bettelstab und das Zepter nicht aus dem gleichen Grund (zur Zügelung) aufgenommen? Jeder kommt mit den Dingen und Bedingungen zusammen, die für ihn nötig und heilsam sind. Wenn ein Hausvater mit seiner Lebensweise unzufrieden ist und sie verwirft, um eine vermeintlich bessere anzunehmen, kann er wegen dieser Abneigung und Zuneigung nie als ein Befreiter von allen Anhaftungen gelten (weil er nur das eine losläßt, um sich am nächsten festzuhalten). Die Königsherrschaft ist ebenso wie das Bettlertum ein Leben zwischen Belohnung und Züchtigung. Wenn sich deshalb König und Bettler so ähnlich sind, warum sollten die Bettler zur Befreiung gelangen und die Könige nicht? Trotz der Königsherrschaft kann man durch Erkenntnis von allen Sünden gereinigt im Höchsten Brahman verweilen. Das Tragen von braunen Stoffen, das Rasieren des Kopfes, das Tragen des Bettlerstabes und der Bettelschale sind nur die äußerlichen Merkmale dieser Lebensweise. Ich denke, sie haben an sich keinen hilfreichen Wert auf dem Weg zur Befreiung. Wenn also die Erkenntnis wichtiger als alle äußerlichen Zeichen ist, warum sollte dann ein König mit Schirm und Zepter nicht den Weg zur Befreiung gehen? Weder besteht die Befreiung in der Armut, noch die Bindung im Wohlstand. Befreiung besteht allein in der Erkenntnis, unabhängig von arm oder reich. Sieh doch, wie ich in Zufriedenheit lebe, obwohl ich mich äußerlich an Gerechtigkeit, Wohlstand und Liebe in Form von Königreich und Gattinnen erfreue, die für andere ein Feld der Anhaftung sind. Die Fesseln von Königreich und Wohlstand und alle anderen Anhaftungen habe ich mit dem Schwert der Entsagung durchtrennt, das ich an der Erkenntnis geschärft habe. So kann ich von mir sagen, daß ich auf diesem Wege Befreiung gefunden habe.

Oh Bettelnonne, ich habe höchste Hochachtung vor dir. Aber das sollte mich nicht davon abhalten, dich zu belehren, daß dein Verhalten nicht der Lebensweise entspricht, zu der du dich entschlossen hast. Du zeigst deine zarte Gestalt, deine hervorragende Schönheit und beste Jugend. Ich zweifle, ob du wirklich den Weg der Entsagung gehst. Die Anzeichen sprechen nicht dafür. Du bist in mein Bewußtsein (mithilfe deiner Yogakraft) eingedrungen, um festzustellen, ob ich wahrhaft befreit bin oder nicht. Doch wer den Bettelstab trägt und Befreiung sucht, sollte nicht von Begierde erfaßt werden. Solange du dich davor nicht beschützen kannst, wirst du keine wahre Befreiung finden. Du bist mit deinem Geist gewaltsam in meinen Körper eingedrungen. Höre, welchen Vergehen du damit schuldig wurdest. Obwohl ich verheiratet bin, bist du mit deiner Yogakraft in mein Wesen eingetreten. Mit dieser Absicht bist du in mein Reich und meine Stadt gekommen, um mein Herz zu ergreifen. Was erwartest du davon? Du gehörst offensichtlich der Ersten aller Kasten an und bist eine Brahmanin. Ich bin dagegen ein Kshatriya, und es sollte keine Vereinigung für uns beide geben. Warum strebst du nach einer Vermischung der Kasten? Du lebst als Bettelnonne und ich als Hausvater. Das wäre eine weitere Untat, daß du diese beiden Lebensweisen vermischst. Ich weiß auch nicht, wer du bist und ob du vielleicht zu meinem Familienstamm gehörst. Das wäre das dritte Übel, die Inzucht. Und falls dein Ehemann noch lebt und nur an einem entfernten Ort wohnt, wäre deine Vereinigung mit mir als Ehebruch die vierte Sünde für uns beide. Wozu begehst du absichtlich alle diese sündigen Taten? Tust du das aus Unwissenheit oder Verwirrung? Unterliegst du vielleicht der Illusion, völlig unabhängig und ungezügelt handeln zu können? Ich denke, wenn du Erfahrung in den heiligen Schriften hast, dann solltest du erkennen, daß dein Verhalten unheilsam ist.

Noch eine weitere Schuld haftet dir aufgrund dieser Tat an, eine Schuld, die den inneren Frieden zerstört. Du zeigst die Merkmale einer übelgesinnten Frau, die versucht, ihre Überlegenheit auszuspielen. Im Streben nach deinem Triumpf wünschst du nicht allein, mich zu besiegen sondern auch meinen ganzen Hofstaat. So richtest du deine verführerischen Augen auch auf all die lobenswerten Brahmanen und wünschst offensichtlich, sie alle zu erniedrigen und dich (auf ihre Kosten) zu erhöhen. Verblendet durch den Stolz auf deine Yogakraft, der aus dem Neid auf andere geboren wurde (als du von meinem Weg hörtest), hast du eine Vereinigung deines Geistes mit dem meinem erzwungen und damit in Wahrheit den Nektar mit Gift vermischt. Denn die Vereinigung zwischen Mann und Frau in gegenseitiger Liebe ist so süß wie Nektar und verdienstvoll. Eine erzwungene Vereinigung ist dagegen wie Gift und voller Sünde. So berühre mich nicht weiter! Sieh doch, daß ich rechtschaffen bin und handle gemäß deinen Geboten. Deine Prüfung, ob ich befreit bin oder nicht, sollte beendet sein. So mögest du mir auch deine wahren Motive nicht weiter verbergen. Kommst du aus eigenem Interesse oder handelst du für die Ziele eines anderen Königs? Einem König sollte man nie betrügerisch begegnen, wie auch einem Brahmanen oder einer tugendhaften Ehefrau nicht. Wer diese drei betrügt, wird bald auf seinen Untergang treffen. Die Macht der Könige besteht in ihrer Herrschaft, die Macht der vedenkundigen Brahmanen in der Wahrheit und die Macht der Frauen in ihrer Schönheit, Jugend und Wonne. Wer deshalb sein Ziel erreichen möchte, sollte sich diesen Kraftvollen mit Ehrlichkeit und Offenheit nähern. Falschheit und Täuschung werden ins Verderben führen. So mögest du mir deine Geburt, Gelehrtheit, Lebensweise und Gesinnung wahrheitsgemäß offenbaren sowie das Ziel deines Erscheinens hier.

Bhishma fuhr fort:
Obwohl die Dame Sulabha mit diesen vorwurfsvollen, herausfordernden und ernsten Worten gerügt wurde, ließ sie sich nicht aus der Ruhe bringen. So antwortete die schöne Sulabha, nachdem der König schwieg, mit angenehmen Worten, die noch anmutiger waren, als sie selbst.

Und Sulabha sprach:
Oh König, die Rede sollte stets von den neun verbalen Fehlern und den neun Fehlern des Verständnisses frei sein. Sie sollte einen klaren Sinn und die achtzehn wohlbekannten Vorzüge besitzen. Tiefgründigkeit, Bedachtheit, Systematik, Schlußfolgerung und Wirksamkeit - diese fünf Eigenschaften machen eine Rede glaubwürdig. Höre nun wie ich diese nacheinander erkläre. Von Tiefgründigkeit (bzw. Vielschichtigkeit) spricht man, wenn sich die Erkenntnis auf verschiedenen Stufen beim Hörer entfalten und sich der Verstand Schritt für Schritt erheben kann. Bedachtheit ist das Abwägen der Wirkung hinsichtlich der Heilsamkeit oder Schädlichkeit der Rede. Systematik nennen die Kenner der Redekunst die vernünftige Reihenfolge von dem, was man sagen will. Schlußfolgerung ist, wenn man bezüglich Gerechtigkeit, Gewinn, Liebe und Befreiung (die vier großen Lebensziele: Dharma, Artha, Kama und Moksha) verschiedene Thesen aufgestellt hat und am Ende einen klar verständlichen Schluß zieht. Die wahre Wirksamkeit einer Rede liegt darin, wenn aus der Einsicht in das zunehmende Leiden, das aus Begierde und Haß entspringt, eine Motivation für heilsames Handeln entsteht.

Oh König, diese fünf Eigenschaften bezüglich des Sinns einer Rede mögest du in meinen Worten vereint finden. Meine Worte mögen bedeutungsvoll sein, nicht widersprüchlich, sondern vernünftig, nicht zu lang oder zu kurz, logisch, milde, zweifelsfrei, freundlich, heiter, wahrhaft, heilsam, schön, vollständig, tiefgründig, ausdrucksvoll, verständlich, glaubwürdig und wirkungsvoll. Ich werde zu dir nicht aus Begierde oder Zorn, Furcht, Verlangen, Gemeinheit, Täuschung, Scham, Mitleid oder Stolz sprechen. Wenn Sprecher, Zuhörer und Worte im Laufe einer Rede harmonieren, dann kann sich deren Sinn deutlich entfalten. Wenn der Sprecher jedoch seine Hörer mißachtet, indem er (überheblich) nur spricht, was er allein versteht, dann wird die Rede unfruchtbar bleiben. Wenn sich der Redner dagegen ganz verneint und nur versucht, die Worte anderer zu verkünden, dann werden auch die wohlklingenden und vernünftigen Worte nur verworrene Eindrücke im Geist der Zuhörer hinterlassen und mehr schaden als helfen. Der Sprecher jedoch, der sich auf seine Zuhörer einstellen kann und den Sinn entsprechend verständlich formuliert, der ist wahrlich ein Redner. So höre deshalb, oh König, mit konzentriertem Geist meine Worte voller Bedeutung und Symbolik.

Du hast mich gefragt, wer ich bin, wem ich gehöre und woher ich komme. Höre meine Antwort, oh König. Wie Lack und Holz oder Erde und Wasser verbunden sind und als Verbindung existieren, so existieren alle Geschöpfe. Klang, Gefühl, Geschmack, Form und Geruch (die Eigenschaften der Elemente) und die entsprechenden Sinnesorgane haften trotz ihrer Verschiedenheit zusammen wie Lack und Holz. Gewöhnlich fragt niemand unter den Sinnesorganen den anderen: „Wer bist du?“ Sie kennen sich weder selbst noch die anderen. Das Auge weiß nicht, daß es Auge ist. Das Ohr weiß nicht, daß es Ohr ist. So kennt auch das Auge die anderen Sinne nicht, oder die anderen Sinne das Auge. Weil all die Sinnesorgane miteinander verbunden sind wie Erde und Wasser, können sie sich nicht selbst erkennen. Für ihre Funktion benötigen sie äußere Bedingungen. Das Sehen benötigt Licht, Form und Auge (Element, Elementeigenschaft und Sinnesorgan). Dasselbe gilt bezüglich der Funktion für alle anderen Sinne, woraus der Sinneseindruck als Wirkung entsteht. Über den Funktionen der Sinne (Sehen, Hören usw.) und ihren Eindrücken (Form, Ton usw.) steht das Denken als weiteres Prinzip, dem man eine besondere Funktion zuschreibt. Mithilfe des Denkens trennt man das Existierende vom Nichtexistierenden, woraus die ruhelosen Gedanken entstehen. Über den fünf Sinnesorganen und den fünf Handlungsorganen ist damit das Denken das elfte. Das zwölfte ist der Verstand, welcher über die Zweifel in den Gedanken entscheiden kann. Über dem Verstand steht das Sattwa (die Güte), was als dreizehntes Prinzip gilt. Mit ihrer Hilfe unterscheiden sich die Wesen in höhere und niedere. Danach kommt das Selbstbewußtsein als vierzehntes Prinzip. Es schafft die Vorstellung von persönlicher Anhaftung und die Unterscheidung von ich und anderen. Das Karma ist das fünfzehnte Prinzip, oh König. Darauf beruht das ganze Weltall. Das sechzehnte Prinzip ist die Unwissenheit. In ihr wohnen das siebzehnte und achtzehnte Prinzip, welche Natur und Entfaltung (Maya bzw. Illusion) genannt werden. Das neunzehnte Prinzip sind die Gegensätze wie Glück und Leid, Geburt und Tod, Gewinn und Verlust oder angenehm und unangenehm. Hinter dem neunzehnten steht das zwanzigste Prinzip, was man Zeit nennt. Erkenne, daß die Geburt und der Tod aller Wesen mit diesem zwanzigsten Prinzip erscheinen. Diese zwanzig aufgezählten Prinzipien bestehen als Einheit. Dazu kommen die fünf grobstofflichen Elemente sowie Existenz und Nichtexistenz, was die Reihe auf siebenundzwanzig bringt. Mit den drei natürlichen Qualitäten von Sattwa, Rajas und Tamas sind es dann insgesamt dreißig.

Die Einheit dieser dreißig Prinzipien nennt man ein körperliches Wesen. Was deren Ursache ist, darüber streiten sich die Gelehrten. Manche mit feinerer Sicht sprechen vom Unentfalteten, andere mit gröberer Sicht vom Entfalteten (bzw. Materiellem). Wie auch immer, die Kenner des Selbst bezeichnen die Quelle aller Geschöpfe als Natur. Diese gestaltende Natur erscheint in Form dieser dreißig Prinzipien. Ich und du, oh Monarch, sowie alle anderen verkörperten Wesen sind eine Wirkung dieser einen Natur. Die Mischung von Sperma und Blut gilt als eine Bedingungen für die Befruchtung. Aus der Befruchtung entsteht die Keimblase (Budbuda) und daraus der Embryo (Kalala). Aus dem Embryo entwickeln sich nacheinander die Glieder bis zu den Nägeln und Haaren. Mit Ablauf des neunten Monats, oh König von Mithila, nimmt das Wesen seine Geburt in der Welt der Namen und Formen und erhält sein Geschlecht. Wenn das Wesen geboren wird, zeigt es seine Gestalt mit Nägeln und Fingern noch in einem kupferroten Farbton. Die erste Lebenszeit nennt man das Säuglingsalter, wo sich diese Gestalt zunehmend verändert. Aus dem Kind wird danach ein Jugendlicher, dann ein Mann und zuletzt ein Greis. Wie das Geschöpf von einem Zustand zum nächsten geht, so wandelt sich unaufhörlich seine Gestaltung. Die formenden Elemente des Körpers, welche verschiedene Funktionen in der allgemeinen Entwicklung erfüllen, wandeln sich in jedem Moment in allen Geschöpfen. Doch diese Veränderungen sind oft so klein, daß man sie nicht wahrnimmt. Das ständige Entstehen und Vergehen der einzelnen Zustände nacheinander kann kaum erfaßt werden, oh König, wie man auch die ständigen Veränderungen in der Flamme einer brennenden Lampe nicht sehen kann. Wenn das jedoch der Zustand aller Geschöpfe ist, daß sich ihre Körper ständig wandeln, wie ein schnelles Roß mal hier und bald dort zu sehen ist, wie kann man da fragen, woher jemand kommt oder nicht kommt, oder wem man angehört oder nicht angehört, oder wer man ist oder nicht ist? Wer könnte da behaupten „Genau das ist mein Körper!“, wenn sich doch alles ständig wandelt?

Wie aus dem Zusammentreffen von Feuerstein und Eisen oder dem Zusammenreiben zweier Holzstöcke Feuer entsteht, so entstehen die Lebewesen, wenn die genannten dreißig Prinzipien zusammenkommen. Wahrlich, wenn du deinen Körper in deinem Körper siehst und deine Seele in deiner Seele, warum siehst du dann nicht auch deinen Körper in den Körpern der anderen und deine Seele in der Seele der anderen? Wenn du jedoch die wahre Einheit zwischen dir und allen anderen siehst, warum fragst du mich, wer ich bin und wem ich gehöre? Wenn du wahrlich, oh König, alle Gegensätze überwunden hast, warum sagst du dann „Das ist mein und das ist dein?“, oder fragst „Wer bist du, wem gehörst du und woher kommst du?“? Welche Befreiung könnte man in einem König finden, der wie andere unter Feinden, Verbündeten und Neutralen handelt, der Sieg, Krieg und Frieden kennt? Welche Befreiung sollte jemand haben, der das wahre Wesen der drei Lebensziele (Dharma, Artha und Kama) nicht durchschaut hat, wie sich diese auf siebenfache Weise (einzeln, paarweise und zu dritt) in allen Taten entfalten, und deshalb diesen drei Anhäufungen noch anhaftet? Welche Befreiung sollte jemand haben, der nicht mit gleichem Auge auf Freund und Feind oder Starke und Schwache schaut? Du bist noch nicht reif für die vollkommene Befreiung! Deine wohlwollenden Berater mögen dir diesen Anspruch ausreden. Dein Versuch, die Befreiung zu erreichen (während du noch als König handelst) ist wie die Anwendung von Medizin an einem Patienten, der sich immer weiter ungesund ernährt. Oh Feindevernichter, sei achtsam bezüglich aller Anhaftungen in deinem Inneren. Erkenne die Höchste Seele in dir! Was sonst könnte als Befreiung gelten?

Höre mich nun, wie ich ausführlich von diesen und verschiedenen kleineren Quellen der Anhaftung spreche, bezüglich der vier wohlbekannten Angewohnheiten (Träumerei, Vergnügen, Essen und Kleidung), an die du noch gebunden bist, obwohl du den Weg der Befreiung gehen möchtest. Auch wenn ein König die ganze Welt ohne einen Zweiten beherrschen würde, so könnte er doch nur in einer bestimmten Hauptstadt sein, wo er in einem bestimmten Palast wohnt und in einem bestimmten Gemach in einem bestimmten Bett schläft. Und die Hälfte dieses Bettes gehört noch der Königin. Daran sieht man, wie beschränkt das Leben eines Königs ist. Und das ist trotz all seiner Vergnügungen, seiner reichlichen Nahrung und seinen kostbaren Roben der Fall. Er ist in all diesen Dingen beschränkt und abhängig, selbst in seiner Macht, andere zu belohnen oder zu bestrafen. Immer ist ein König abhängig, schon in kleinen Dingen ist er nicht frei, von Krieg und Frieden gar nicht erst zu reden. Ihn binden Ehefrauen, Vergnügen und Kampf wie auch die Ratsversammlung seiner Minister. Wenn man denkt, ein König ist frei, weil er anderen befehlen kann, so sind es gerade diese Befehle, die ihn durch ihre Wirkungen binden. Selbst im Schlafen und Wachen ist er davon abhängig und nicht frei. Den ganzen Tag wird er beschäftigt wie ein Sklave mit Baden, Opfern, Trinken, Essen, Anhören, Reden und Urteilen. Die Menschen kommen in Scharen zum König und bitten um Geschenke. Und selbst da kann er nicht allen geben, weil seine Schatzkammer begrenzt ist. Denen er gibt, die werden stolz. Denen er nicht gibt, die werden ärgerlich. Das wird ihn mit der Zeit verdrießen, und Mißtrauen schleicht sich in den Geist des Königs. Aus dem Mißtrauen wird Angst, und aus der Angst wird Unzufriedenheit. Schau, auf diese Weise entstehen die Sorgen eines Königs! Er ist nicht viel anders als die vielen Hausväter, die in ihren Häusern ebenfalls Könige sind. Denn wie Könige strafen und belohnen sie in ihrem Haus, oh Nachkomme des Janaka. Wie Könige haben sie Stolz, Söhne, Ehefrauen, Schatzkammern, Freunde und Vorräte. Wird sein Land erobert, die Hauptstadt verbrannt und sein bester Elefant getötet, leidet der König wie alle anderen durch seine Unwissenheit und Verblendung. So ist ein König dem Kummer unterworfen, der aus Angst, Begierde und Haß entsteht, und wird von den üblichen Krankheiten wie Kopfschmerzen usw. gequält. Bedrängt von vielfältigen Gegensätzen, muß er auf alles reagieren, denn ein Königreich ist voller Feinde und Hindernisse, die dem König schlaflose Nächte bereiten. So eine Herrschaft bringt wenig Glück aber viel Leiden. Sie ist wie ein Strohfeuer oder der Schaum auf dem Wasser. Wer könnte Zufriedenheit finden, wenn er nach der Herrschaft strebt oder sie ausübt? Du betrachtest dieses Königreich, den Palast, die Armee, Schatzkammer und Minister als dein Eigen. Doch wem gehören sie in Wahrheit und wem nicht? Verbündete, Minister, Hauptstadt, Provinzen, Richteramt, Schatzkammer und König - diese sieben bilden ein Königreich und bestehen abhängig voneinander, wie sich drei Stöcke gegenseitig stützen. Welches von ihnen wäre durch seine Vorzüge den anderen überlegen? Mal ist dieses wichtig, mal jenes, völlig abhängig vom Ziel, das gerade im Blickpunkt ist. Diese siebenfache Schar, zu der sich die drei Lebensziele (Gerechtigkeit, Wohlstand und Vergnügen) gesellen, ist der eigentliche König, der die Herrschaft im Reich genießt. Und dieser König, der voller Kraft ist und die Kshatriya Pflichten erfüllt, muß mit einem zehnten Teil der Erträge seiner Untertanen zufrieden sein oder sogar mit weniger.

Es gibt keinen herrschenden König, der nicht von anderen abhängig wäre, wie es auch kein Königreich ohne König gibt. Ohne Königreich gäbe es aber auch keine Gerechtigkeit, ohne Gerechtigkeit (Dharma) keinen Weg zur Befreiung. Damit entsteht all der heilsame Verdienst aus dem König und dem Königreich. Der König, der sein Königreich wahrhaft regiert, erntet das Verdienst eines Pferdeopfers in dem die ganze Erde als Dakshina (Opferlohn) hingegebenen wird. Aber wie viele Könige herrschen über ihre Königreiche wahrhaft und gerecht? Oh Herrscher von Mithila, so könnte ich Hunderte und Tausende weitere Unvollkommenheiten bezüglich Könige und Königreiche aufzählen.

(Doch nun zu deinen Fragen:) Du solltest erkannt haben, daß ich an keinem eigenen Körper anhafte. Wie kannst du dann behaupten, daß ich körperlichen Kontakt mit anderen suche? Wie kannst du mich beschuldigen, eine Vermischung der Kasten zu verursachen? Hast du nicht die vollständige Befreiungslehre von den Lippen des Panchasikha zusammen mit den rechten Mitteln, Geheimnissen, Gefahren und Wirkungen vernommen? Wenn du all deine Fesseln überwunden hast und von allen Anhaftungen befreit bist, warum, oh König, bewahrst du noch diese Verbindungen mit dem königlichen Schirm und der Königsherrschaft? So, wie du zu mir gesprochen hast, könnte man meinen, daß du die heilige Lehre nur gehört, aber nicht wahrlich verwirklicht oder sogar mißverstanden hast. Du sprachst zu mir wie ein Weltmensch, der von Körperlichkeit, sinnlicher Liebe und weltlichen Vergnügungen befangen ist. Wenn es wahr ist, daß du von allen Bindungen frei bist, welchen Schaden habe ich dir zugefügt, als ich rein geistig in dein Bewußtsein gekommen bin? Für uns Asketen gilt das Gebot, nur in unbewohnten oder verlassenen Häusern zu verweilen. Welchen Schaden habe ich dir zugefügt, wenn ich in der unbewohnten Stätte deines reinen Bewußtseins Zuflucht genommen habe? Ich habe dich, oh König, weder mit Händen, Armen, Füßen, Schenkeln oder anderen Körperteilen berührt, oh Sündloser. Du bist hochbeseelt, hast Bescheidenheit und Weitsicht. Ob ich nun gut oder schlecht gehandelt habe, daß ich in deinen Geist eingedrungen bin, ist eine persönliche Sache zwischen uns allein. Warum hast du den ganzen Hofstaat mit hereingezogen? Diese reinen Brahmanen sind allen Respekts würdig und die Besten der Lehrer. Wie du sie verehrst, so verehren sie dich auch. Bedenke es wohl, ob es richtig war, sie in deine sinnliche Vision einer sexuellen Vereinigung zwischen uns einzubeziehen. Oh König von Mithila, ich weile völlig unberührt in dir, wie ein Wassertropfen auf einem Blatt der Lotusblüte. Wenn du aber dennoch meine Berührung fühlst, wie kommt es, daß trotz der Belehrung durch den Bettelmönch Panchasikha dein Bewußtsein von den Sinnesobjekten davongetragen wurde? Es ist vielleicht wahr, daß du die Lebensweise der Hausväter überwunden hast, aber die Befreiung hast du noch nicht erreicht, die so schwer zu erreichen ist. Du bist auf dem Weg zwischen dem einen und dem anderen, wie einer, der aus der Erlösung ein Gewerbe macht.

Ein Kontakt zwischen reinen Wesen, wie zwischen Geist und Natur, führt niemals zu einer Vermischung der Art, wie du befürchtest. Nur wer verschiedene Seelen in vielen Körpern wohnen sieht und die vier Kasten und Lebensweisen getrennt voneinander betrachtet, ist für diese Illusion einer Vermischung offen. Mögen unsere Körper auch unterschiedlich erscheinen, aber meine Seele ist von deiner Seele nicht verschieden. Weil ich das erkannt habe, sehe ich auch in Wahrheit keinen Geist von mir, der in dir verweilen würde, obwohl ich durch Yogakraft in dich eingetreten bin. In der Hand hält man einen Topf, im Topf ist Milch und auf der Milch sitzt eine Fliege. Obwohl Hand, Topf, Milch und Fliege eine Einheit sind, existieren sie doch getrennt voneinander. Der Topf hat ein anderes Wesen wie die Milch, und die Milch hat ein anderes Wesen wie die Fliege. Jedes Geschöpf existiert abhängig von seinen Bedingungen (z.B. Karma) und vermischt sich deshalb nicht mit den anderen (zur „Handtopfmilchfliege“). Wenn also vier Lebensweisen und vier Kasten wirklich existieren, wie sollten sie sich vermischen, nur wenn sie in Kontakt kommen?

Doch sei beruhigt, ich bin weder aus einer höheren noch aus einer niederen Kaste (oder Lebensweise). Ich bin wie du, oh König, reinen Ursprungs und reinen Wandels. Es gab einst einen königlichen Weisen namens Pradhana. Du hast sicherlich von ihm gehört. Ich wurde in seiner Familie geboren und erhielt den Namen Sulabha. In den Opfern meiner Vorfahren erschienen sogar die Ersten der Götter mit Indra an ihrer Spitze, begleitet durch Drona, Shatashringa und Chakradvara (die Gottheiten der großen Berge). Doch in einer solch hohen Familie fand man keinen passenden Ehemann für mich. So wurde ich für den Weg zur Befreiung belehrt und wandere nun mit den Gelübden der Asketen allein über die Erde. Warum bezichtigst du mich der Heuchelei, wenn ich ein Leben der Entsagung führe? Ich bin weder ein Dieb am Eigentum anderer noch eine Ehebrecherin. Ich folge aufrichtig den Gelübden meiner Lebensweise. Ich spreche nie ein unüberlegtes Wort und bin auch nicht zufällig zu dir gekommen, oh Monarch. Als ich hörte, daß dein Geist dem Weg der Befreiung hingegeben ist, kam ich zu deinem Heil hierher, um deinen Fortschritt auf diesem Weg zu prüfen. Ich sprach nicht zu dir, um mich zu erhöhen und andere zu erniedrigen. Ich sprach allein aus der Wahrheit heraus.

Solange man am Streit der Gegensätze anhaftet und wie ein Krieger mit intellektuellen Kategorien kämpft, kann keine Befreiung sein. Befreiung ist die vollkommene Hingabe an das Brahman, das ewigstille Eine. Doch wie ein wandernder Bettler nur eine Nacht in einem leeren Haus verbringt und dann weiterzieht, so werde auch ich nur eine Nacht in deinem Geist verweilen. Du hast mich mit Rede und Bewirtung wohlgeehrt, wie es sich zwischen Wirt und Gast geziemt. Nachdem ich diese Nacht in deinem Geist wie in meiner eigenen Kammer verbracht habe, oh Herrscher von Mithila, werde ich zum Sonnenaufgang zufrieden weiterziehen.

Bhishma fuhr fort:
Als der Nachkommen von König Janaka in seinem Geist diese ausgezeichneten Worte voll tiefster Bedeutung und höchster Vernunft vernahm, schwieg er still und erwiderte nichts.


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