Pushpak Mahabharata Buch 12Zurück WeiterNews

Kapitel 203 - Manu über das Gleichnis von Seele und Mond

Manu sprach:
Das Denken erinnert sich zusammen mit den Sinnen auch nach langer Zeit an die Eindrücke der Vergangenheit. Wenn die Sinne und das Denken gereinigt und gestillt sind, bleibt allein die Höchste Seele in Form der Vernunft in ihrer wahren Natur zurück. Solange die Seele noch im geringsten von den vielfältigen Sinnesobjekten mit ihren Erscheinungen und Erinnerungen verstrickt wird, solange wird sie notwendigerweise unter den vergänglichen und gegensätzlichen Geschöpfen der Welt umherwandern. Und so geschieht es, daß die Höchste Seele, dieser ewigstille Zeuge, von einem Körper umhüllt, als etwas Getrenntes und Unabhängiges erscheint. Dann gibt es Rajas, Tamas und Sattwa (Leidenschaft, Dunkelheit und Güte) sowie die drei Zustände des Bewußtseins, nämlich traumhaftes Wachen, traumhaftes Schlafen und traumloses Schlafen. Damit erfährt die Seele Glück und Leid sowie alle anderen Gegensätze, die aus den genannten drei Qualitäten erscheinen. Sie ergreift die Sinne wie der Wind das Feuer im Brennholz anfacht. Diese Seele kann man als Objekt weder durch das Auge schauen, noch mit dem Gefühl berühren oder durch andere Sinne erfassen. Könnte ein Sinn dieses Höchste erkennen, so würde dieser Sinn seinen Sinn verlieren. Deshalb können die Sinne (wie auch das Denken) ihren wahren Sinn nicht selbst erkennen. Nur die Höchste Seele ist allwissend. Sie kann durch die Sinne alle Dinge und auch den Sinn der Sinne (sich Selbst) erkennen.

Niemand hat die Unterseite der Himavat Berge gesehen, noch die Rückseite der Mondscheibe. Und doch kann man nicht bestreiten, daß es sie gibt. Ähnlich kann man nicht bestreiten, daß es die Seele gibt, welche auf subtile Weise in allen Wesen wohnt und in ihrer Essenz reine Erkenntnis ist, obwohl sie noch niemand gesehen hat. So sehen die Leute auch die Erde als Reflektion in der Mondscheibe. Doch obwohl sie etwas sehen, wissen sie nicht, was es eigentlich ist. Solcherart ist das Wissen über die Seele. Die Erkenntnis muß von ihr selbst kommen, denn nur die Seele kann sich selbst erkennen („Selbsterkenntnis“). Der Weise meditiert über die Formlosigkeit aller Formen vor ihrer Geburt und nach ihrer Auflösung und erkennt mithilfe seiner Intelligenz das formlose Wesen aller Formen, wie sich auch die Bewegung der Sonne, die auf dem ersten Blick nicht zu sehen ist, aus der Beobachtung des Aufsteigens und Versinkens schlußfolgern läßt. So schauen die Weisen mithilfe des Lichtes ihrer Intelligenz die Seele, obwohl sie weit jenseits aller Sinneswahrnehmung ist, und bemühen sich, die fünf Elemente, die ihnen nahe sind, im Brahman zu verschmelzen. Denn wahrlich, kein Ziel kann ohne die Anwendung der rechten Mittel vollbracht werden. Die Fischer fangen die Fische mittels ihrer Netze. Tiere werden zusammengetrieben mittels anderer Tiere. Vögel werden mittels Vögel gefangen und Elefanten mittels Elefanten. So schaut man auch die Seele mittels Selbsterkenntnis. Ein Sprichwort sagt, nur eine Schlange sieht die Beine einer Schlange. Auf dieselbe Weise schaut man durch Selbsterkenntnis die Seele in ihrer subtilen Form, wie sie innerhalb des grobstofflichen Körpers wohnt.

Wie die Sinne sich nicht selbst kennen, so kann auch der höchste Verstand nicht die Seele verstehen, die noch viel höher ist. Wenn auch der Mond in der Neumondnacht nicht mehr zu sehen ist, weil jegliches Merkmal fehlt, so behauptet doch niemand, daß es ihn nicht gibt. So ist es auch mit der Seele. Wie der Mond seine Erscheinung verliert, so sieht man auch von der Seele nichts, wenn sie ohne Körper ist. Und wie der Mond an einem anderen Ort am Firmament wieder erscheint und zunimmt, so bekommt auch die Seele immer wieder einen neuen Körper und beginnt sich erneut zu manifestieren. Die Geburt, das Wachstum und das Verschwinden des Mondes kann mit dem Auge direkt gesehen werden, denn diese Erscheinungen gehören zu seiner groben Form. Ähnlich ist es mit der Verkörperung der Seele. Wenn der Mond nach der Neumondnacht wieder erscheint, wird er gewöhnlich als der gleiche Mond betrachtet, welcher zuvor unsichtbar geworden war. Auf die gleiche Weise kann man die Seele betrachten, die trotz ihrer Veränderung durch Geburt, Wachstum und Alter dieselbe bleibt. Wie man Rahu selbst (die Finsternis) nicht sehen kann, die den Mond verzehrt und wieder freigibt, so kann man auch die Seele selbst nicht sehen, wenn sie einen Körper verläßt und in einen anderen eingeht. Und wie Rahu nur in Verbindung mit Sonne oder Mond sichtbar wird, so ähnlich wird die Seele nur in Verbindung mit einem Körper begreifbar. Ist Rahu (die Finsternis) von Sonne oder Mond getrennt, kann man die Finsternis selbst nicht mehr sehen. Ähnlich kann auch die Seele, die vom Körper befreit ist, nicht mehr gesehen werden. Und wie der Mond, selbst, wenn er in der Neumondnacht verschwindet, von den Konstellationen und Sternen nicht verlassen wird, so wird auch die Seele, wenn sie vom Körper getrennt ist, von den Früchten ihrer Taten nicht verlassen, die sie mit diesem Körper angesammelt hat.


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