Pushpak Alfred Hillebrandt-UpanishadenZurück WeiterNews

CHÂNDOGYA-UPANISHAD

DIE LEHRE DES SHANDILYA

Alles ist Brahman. Aus Ihm entsteht alles, durch Ihn wird alles erhalten und in Ihm vergeht alles. Friedvollen Herzens soll man beständig über Ihn meditieren. Denn der Mensch besteht aus Wollen. Wie das Wollen des Menschen in dieser Welt ist, so wird er nach seinem Scheiden aus dieser Welt. Er muß sein Wollen kultivieren.

Geist ist sein Stoff, Leben sein Leib, Bewußtsein seine Person, Wirklichkeit sein Wille, Raum sein Körper. Es ist allwirkend, allwünschend, allsehend, allwissend, allumfassend, still, unbewegt.

Das ist mein Âtman im Inneren des Herzens, feiner als ein Reis-, Gersten-, Senf- oder Hirsekorn oder das Korn eines Hirsekorns. Das ist mein Âtman im Innern des Herzens, größer als die Erde, größer als der Luftraum, größer als der Himmel, größer als die Welten.

Er ist allwirkend, allwünschend, allsehend, allwissend, allumfassend, still, unbewegt. Dieser mein Âtman im Innern des Herzens ist das Brahman, zu ihm werde ich nach meinem Scheiden von hier gelangen. Wer dies wahrhaft erkennt, dem bleibt kein Zweifel.

So spricht Shândilya, Shândilya.

DIE ENTSTEHUNG UND BEENDIGUNG DES LEBENS

Shvetaketu war der Sohn des Âruni. Zu ihm sprach der Vater: »Shvetaketu, tritt in den heiligen Schülerstand. Denn es gibt aus unserem Geschlecht, mein Lieber, keinen, der nicht studiert hätte und nur eine Art Brahmanenvetter wäre.«

Zwölf Jahre alt begab dieser sich da in die Lehre, mit vierundzwanzig Jahren hatte er alle Veden studiert und kehrte hochfahrend, wissensstolz und eingebildet heim.

Zu ihm sprach der Vater: »Shvetaketu, wenn du, mein Lieber, so hochfahrend, wissensstolz und eingebildet bist, hättest du noch nach der Unterweisung gefragt, durch die das Ungehörte gehört, das Ungedachte gedacht, das Unerkannte erkannt ist?«

»Wie ist diese Unterweisung, Ehrwürdiger?«

»Mein Lieber, wie man an einem Lehmklumpen alles erkennt, was aus Lehm ist, die Umwandlung nur ein Behelf im Ausdruck, eine Bezeichnung, die Wirklichkeit aber 'Lehm' ist; wie, mein Lieber, man an einer kleinen Kupferkugel alles, was aus Kupfer ist, erkennt, die Umwandlung nur ein Behelf im Ausdruck, eine Bezeichnung, die Wirklichkeit aber 'Kupfer' ist; wie, mein Lieber, man an einer Nagelschere alles, was aus Eisen ist, erkennt, die Umwandlung nur ein Behelf im Ausdruck, eine Bezeichnung, die Wirklichkeit aber 'Eisen' ist, derart, mein Lieber, ist die Unterweisung.«

»Das haben die Ehrwürdigen sicherlich nicht gewußt. Wenn sie es gewußt hätten, wie sollten sie es mir nicht gesagt haben. Aber der Ehrwürdige wolle mir das erklären.«

»Ja, mein Lieber«, sprach er. »Nur das Seiende, mein Lieber, war hier zu Anbeginn, das Seiende, ganz allein, ohne ein zweites. Da sagen nun einige: »Nur das Nichtseiende war hier zu Anbeginn, das Nichtseiende allein, ohne ein zweites. Aus diesem Nichtseienden entstand das Seiende. Wie könnte das wohl sein, mein Lieber?« sprach er. »Wie könnte aus dem Nichtseienden das Seiende entstehen? Das Seiende also nur war hier zu Anbeginn, das Seiende allein, ohne ein zweites.

Dieses dachte bei sich: »Ich möchte mich vermehren, ich möchte mich fortpflanzen.« Es schuf die Glut (tejas). Die Glut dachte bei sich: »Ich möchte mich vermehren, ich möchte mich fortpflanzen.« Sie schuf das Wasser (âpas). Wo immer es heiß ist oder ein Mensch schwitzt, entsteht darum Wasser aus der Glut. Das Wasser dachte bei sich: »Ich möchte mich vermehren, ich möchte mich fortpflanzen.« Es schuf die Speise (annam). Wo immer es regnet, da gibt es darum Speise in reicher Fülle; aus dem Wasser entsteht da die Nahrung.

Diese Wesen haben hier dreierlei Ursprung: eigeboren, lebendgeboren, keimgeboren.

Die Gottheit (das Seiende) dachte bei sich: »Wohlan, ich will diese drei Gottheiten (Glut, Wasser, Speise) mit meiner lebendigen Seele durchdringen und 'Name und Gestalt' sondern. Eine jede von ihnen will ich dreifach machen.« Die Gottheit durchdrang die drei Gottheiten mit dieser seiner lebendigen Seele und sonderte 'Name und Gestalt'. Sie machte eine jede von ihnen dreifach. Wie nun jede einzelne von den drei Gottheiten dreifach erscheint, das lerne von mir.

Die rote Erscheinungsform des Feuers ist die der Glut, seine weiße Erscheinungsform die des Wassers, seine schwarze die der Speise. Damit ist das »Feuersein« vom Feuer geschwunden; die Umwandlung ist nur ein Behelf im Ausdruck, eine Bezeichnung; Wirklichkeit sind nur die drei Erscheinungsformen. Die rote Erscheinungsform der Sonne ist die der Glut, ihre weiße Erscheinungsform die des Wassers, ihre schwarze die der Speise. Damit ist das Sonnesein von der Sonne geschwunden; die Umwandlung ist nur ein Behelf im Ausdruck, eine Bezeichnung; Wirklichkeit sind nur die drei Erscheinungsformen. Die rote Erscheinungsform des Mondes ist die der Glut, seine weiße die des Wassers, seine schwarze die der Speise. Damit ist das Mondsein vom Monde geschwunden, die Umwandlung ist nur ein Behelf im Ausdruck, eine Bezeichnung; Wirklichkeit sind nur die drei Erscheinungsformen. Die rote Erscheinungsform des Blitzes ist die der Glut, seine weiße die des Wassers, seine schwarze die der Speise. Damit ist das Blitzsein vom Blitz geschwunden, die Umwandlung ist nur ein Behelf im Ausdruck, eine Bezeichnung; Wirklichkeit sind nur die drei Erscheinungsformen.

Dessen kundig haben so die großen Patriarchen und Gelehrten der Vorzeit gesprochen. Denn aus ihnen wußten sie ja: nicht wird uns heut irgendeiner etwas vorbringen, was ungehört, was ungedacht, was unerkannt ist. Sie wußten: was rot zu sein schien, ist die Form der Glut; sie wußten: was weiß zu sein schien, ist die Form des Wassers; sie wußten: was schwarz zu sein schien, ist die Form der Speise; sie wußten: was unbekannt zu sein schien, ist eine Zusammensetzung aus diesen Gottheiten. Wie nun, mein Lieber, von diesen Gottheiten eine jede im Menschen sich dreifach teilt, das lerne von mir.

Die genossene Speise teilt sich dreifach. Ihr gröbster Bestandteil wird zu Kot, ihr mittlerer zu Fleisch, ihr feinster zum Denkorgan. Das genossene Wasser teilt sich dreifach. Sein gröbster Bestandteil wird zu Harn, sein mittlerer zu Blut, sein feinster zum Lebenshauch. Die genossene Glut teilt sich dreifach. Ihr gröbster Bestandteil wird zu Knochen, ihr mittlerer zu Mark, ihr feinster zur Stimme. Denn aus Speise, mein Lieber, besteht das Denkorgan, aus Wasser der Lebenshauch, aus Glut die Stimme.« »Belehre mich weiter, Ehrwürdiger.«

»Ja, mein Lieber«, sprach er. »Wenn saure Milch gequirlt wird, so strebt der feinste Bestandteil davon nach oben und wird Butter. Ganz ebenso strebt von genossener Speise der feinste Bestandteil nach oben und wird zum Denkorgan. Wenn Wasser genossen wird, mein Lieber, so strebt der feinste Bestandteil davon nach oben und wird zum Lebenshauch. Wenn Glut genossen wird, mein Lieber, so strebt der feinste Bestandteil nach oben und wird zur Stimme. Denn aus Speise, mein Lieber, besteht das Denkorgan, aus Wasser der Lebenshauch, aus Glut die Stimme.« »Belehre mich weiter, Ehrwürdiger.«

»Ja, mein Lieber«, sagte er. »Aus sechzehn Teilen, mein Lieber, besteht der Mensch. Nimm fünfzehn Tage hindurch keine Nahrung zu dir, aber trinke Wasser nach Belieben. Der Lebenshauch (Prâna) besteht aus Wasser und wird dem, der trinkt, nicht abgeschnitten werden.« Er nahm fünfzehn Tage hindurch keine Speise zu sich. Alsdann nahte er ihm und fragte: »Was soll ich sagen, Herr?« »Den Rik-, den Yajur- und den Sâmaveda.« Er sprach: »Sie fallen mir nicht ein, Herr.« Der sprach zu ihm: »Wie ein großes Feuer, von dem eine einzige Kohle in der Größe eines Leuchtkäfers übriggeblieben ist, damit auch nicht heller als diese brennen möchte, ebenso, mein Lieber, dürfte von deinen sechzehn Teilen nur einer übrig sein und vermöge dessen hast du jetzt die Veden nicht mehr inne. Iß. Dann wirst du mehr von mir lernen.« Dieser aß. Alsdann nahte er ihm und was immer der fragte, alles beantwortete er. Der sprach zu ihm: »Wie ein großes Feuer, von dem eine einzige Kohle in Größe eines Leuchtkäfers übrig ist, wenn man diese unter Anlegung von Stroh zum Aufflammen bringt, auch heller als diese brennen möchte, so war, meine Lieber, von deinen sechzehn Teilen nur einer übriggeblieben; dieser, mit Speise genährt, flammte auf, und vermöge dessen hast du die Veden jetzt inne. Denn aus Speise, mein Lieber, besteht das Denkorgan, aus Wasser der Prâna, aus Glut die Stimme.« So wurde er von ihm belehrt; von ihm belehrt.

Uddalaka, der Sohn des Aruna, sprach zu seinem Sohne Shvetaketu: »Erfahre von mir das Wesen des Schlafes. Wenn hier nämlich ein Mensch schläft, so hat er mit dem Seienden sich vereinigt. Er ist in sich eingegangen. Darum sagt man von ihm sva-piti, »er schläft«; denn er ist in sich eingegangen (svam-apîta). (Tiefschlaf)

Wie ein Vogel, der an eine Schnur gebunden ist, nach dieser und jener Richtung fliegt und, ohne anderwärts einen Stützpunkt gefunden zu haben, wieder zu seinem Gefängnis zurückkehrt, so fliegt das Denkvermögen nach dieser und jener Richtung und kehrt, ohne anderwärts einen Stützpunkt gefunden zu haben, zum Prâna zurück. Denn das Denkorgan ist an den Prâna gebunden. (Traum)

Erfahre von mir das Wesen von Hunger und Durst. Wenn hier ein Mensch zu essen wünscht, so führt das Wasser die Speise weg. Wie man von einem Kuh-, Rosse- oder Menschenführer spricht, so nennt man das Wasser »Speiseführer«. Eine sich dergestalt äußernde Wirkung, wisse, wird nicht ohne Ursache sein. Wo anders könnte die Wurzel liegen als in der Speise? Ebenso, mein Lieber, suche bei der Speise als Wirkung die Ursache in dem Wasser, bei dem Wasser, mein Lieber, als Wirkung suche die Ursache in der Glut; bei der Glut, mein Lieber, als Wirkung suche die Ursache in dem Sât (das Seiende). In dem Sât, mein Lieber, haben all die Geschöpfe ihre Ursache, in dem Sât ihre Stütze, in dem Sât ihren Grund.

Wenn nämlich hier ein Mensch zu trinken wünscht, da führt die Glut das Getrunkene hinweg. Wie man von einem Kuh-, Rosse-, Menschenführer spricht, so nennt man die Glut »Wasserführer«. Eine sich dergestalt äußernde Wirkung, wisse, wird nicht ohne Ursache sein. Wo anders könnte die Ursache liegen als im Wasser? Bei dem Wasser als Wirkung, mein Lieber, suche in der Glut die Ursache; bei der Glut als Wirkung, mein Lieber, suche in dem Sât die Ursache. In dem Sât, mein Lieber, haben all die Geschöpfe ihre Ursache, in dem Sât ihre Stütze, in dem Sât ihren Grund.

Wie von diesen Gottheiten, mein Lieber, eine jede im Menschen sich dreifach teilt, das ist oben gesagt. Wenn der Mensch nun stirbt, mein Lieber, so geht die Stimme in das Denkorgan über, das Denkorgan in den Hauch, der Hauch in die Glut, die Glut in die höchste Gottheit.« »Lehre mich noch weiter, Ehrwürdiger.«

»Ja, mein Lieber«, sprach er. »Wie die Bienen, mein Lieber, Honig bereiten und die Säfte verschiedener Bäume sammelnd den Saft zu einer Einheit werden lassen, wie diese einzelnen Säfte dort den Unterschied »ich bin der Saft von dem oder jenem Baum« nicht mehr gewahren, so, wahrlich, mein Lieber, gehen all diese Wesen in das Seiende ein und wissen nicht, daß sie in das Seiende eingehen. Was diese immer hier sind, sei es Tiger, Löwe, Wolf, Eber, Wurm, Motte, Fliege oder Bremse, sie werden zum Sât.« »Lehre mich noch weiter, Ehrwürdiger.«

»Ja, mein Lieber«, sprach er. »Die Flüsse hier im Osten fließen nach Osten, die im Westen fließen nach Westen, aus dem Meer fließen sie ins Meer, sie werden zum Meer. Wie diese dort nicht wissen, »ich bin dieser oder jener Strom«, so kommen alle diese Geschöpfe aus dem Sât, ohne zu wissen, daß sie aus dem Sât kommen. Was diese immer hier sind, sei es Tiger, Löwe, Wolf, Eber, Wurm, Motte, Fliege, Bremse, sie werden dazu.« »Lehre mich noch weiter, Ehrwürdiger.«

»Ja, mein Lieber«, sprach er. »Wenn einer, mein Lieber, diesen großen Baum an der Wurzel anschlägt, so wird dieser, weiter lebend, seinen Saft ausströmen lassen; wenn er ihn in der Mitte anschlägt, so wird dieser, weiter lebend, seinen Saft ausströmen lassen; wenn er ihn am Gipfel anschlägt, so wird dieser, weiter lebend, seinen Saft ausströmen lassen. Von der lebendigen Seele durchdrungen, strotzt er fröhlich weiter. Wenn aber die Seele einen Zweig von ihm verläßt, dann verdorrt er; verläßt sie einen zweiten, so verdorrt er, verläßt sie einen dritten, so verdorrt er; verläßt sie den ganzen Baum, so verdorrt er ganz. Ganz in derselben Weise, wisse, mein Lieber«, sprach er, »stirbt das, was von der lebenden Seele verlassen ist; nicht stirbt die lebende Seele. Diese feinste Substanz durchzieht das All, das ist das Wahre, das ist das Selbst, das bist du (tat twam asi), Shvetaketu.« »Lehre mich noch weiter.«

»Ja, mein Lieber«, sprach er. »Bringe mir von da eine Nyagrodhafrucht.« »Hier ist sie, Ehrwürdiger.« »Spalte sie.« »Sie ist gespalten, Ehrwürdiger.« »Was siehst du da?« »Ganz feine Körner, Ehrwürdiger.« »Spalte eines von diesen.« »Es ist gespalten, Ehrwürdiger.« »Was siehst du da?« »Nichts, Ehrwürdiger.« Der sprach zu ihm: »Der feinste Stoff, den du nicht wahrnimmst, aus dem besteht so der große Nyagrodhabaum. Glaube, mein Lieber, dieser feinste Stoff durchzieht dies All, das ist das Wahre, das ist das Selbst, das bist du (tat twam asi), Shvetaketu.« »Belehre mich weiter, Ehrwürdiger.«

»Ja, mein Lieber«, sprach er. »Tue hier Salz in das Wasser und stelle dich früh bei mir ein.« Er tat so. Der sprach zu ihm: »Bringe mir das Salz, das du abends in das Wasser getan hast.« Er tastete danach und fand es nicht, da es zergangen war. »Koste von dieser Seite. Wie schmeckt es?« »Salzig.« »Koste von der Mitte. Wie schmeckt es?« »Salzig.« »Koste von unten. Wie schmeckt es?« »Salzig.« »Schütte es weg und stelle dich bei mir ein.« Er tat so (und sagte:). »Das (Salz) bleibt immer.«

Der sprach zu ihm: »Das Seiende wirst du hier nicht gewahr, dennoch: hier ist es. Dieser feinste Stoff durchzieht dies All, das ist das Wahre, das bist du, Shvetaketu.« »Lehre mich weiter, Ehrwürdiger.«

»Ja, mein Lieber«, sprach er. »Wenn man einen Mann aus dem Gandhâralande mit verbundenen Augen herbrächte, ihn dann in der Fremde freiließe und er dort nach Osten, Norden, Süden oder Westen laut riefe: »Man hat (mich) mit verbundenen Augen hierhergeführt, mit verbundenen Augen freigelassen«, wenn dann einer ihm die Binde löste und zu ihm spräche: »In dieser Richtung liegt Gandhâraland, gehe in dieser Richtung«, so würde er, von Dorf zu Dorf sich befragend, unterrichtet, kundig nach dem Gandhâralande gelangen. Genau so weiß ein Mensch, der einen Lehrer hat: dieser Welt gehöre ich nur so lange an, als ich nicht befreit werde. Alsdann werde ich hier zu dem Seienden gelangen.« »Belehre mich weiter, Ehrwürdiger.«

»Ja, mein Lieber«, sprach er. »Um einen Schwerkranken sitzen die Angehörigen und fragen ihn: »Kennst du mich, kennst du mich?« Solange seine Stimme in das Denkorgan, das Denkorgan in den Hauch, der Hauch in die Glut, die Glut in die höchste Gottheit nicht eingeht, solange erkennt er sie. Aber wenn seine Stimme in das Denkorgan, das Denkorgan in den Hauch, der Hauch in die Glut, die Glut in die höchste Gottheit eingeht, dann erkennt er sie nicht.« »Belehre mich weiter, Ehrwürdiger.«

»Ja, mein Lieber«, sprach er. »Man führt einen Menschen herbei, der an den Händen gefesselt ist. »Er hat gestohlen«, ruft man, »machet für ihn die Axt heiß.« Wenn er der Täter ist, so macht er sich zum Lügner. Er macht eine unwahre Aussage, hüllt sein Selbst in Unwahrheit und ergreift die heiß gemachte Axt. Er verbrennt sich und wird getötet. Wenn er aber der Täter nicht ist, so macht er sich wahrhaftig. Er macht eine wahre Aussage, hüllt sein Selbst in Wahrheit und ergreift die heiß gemachte Axt. Er verbrennt sich nicht und wird nicht getötet. Wie er sich dabei nicht verbrennt, so durchzieht das Sât alles, das ist das Wahre, das ist der Âtman, das bist du (tat twam asi), Shvetaketu.«

Das lernte er von ihm, das lernte er von ihm.

DER LOTUS DES HERZENS

In der Brahmaburg (des Leibes) ist eine kleine Lotusblüte als Behausung. Darin ist ein kleiner Innenraum. Was in diesem sich befindet, muß man erforschen, das muß man zu erkennen suchen.

Wenn sie zu ihm sagen sollten: »In der Brahmaburg ist eine kleine Lotusblüte als Behausung. Darin ist ein kleiner Innenraum. Was befindet sich darin, das man erforschen, das man zu erkennen suchen muß?«, so möge er sagen: »So groß wie hier dieser Raum, so groß ist der Raum im Innern des Herzens. Himmel und Erde sind beide darin enthalten, Agni und Vâyu beide, Sonne und Mond beide, Blitz und Gestirne; was hier (des Menschen) ist und was nicht, das alles ist darin enthalten.«

Wenn sie zu ihm sagen sollten: »Wenn hier in der Brahmaburg alles enthalten ist, alle Wesen sowohl als alle Wünsche, was bleibt davon übrig, wenn das Alter sie befällt oder sie zugrunde geht?«, so möge er sagen: »Nicht wird sie durch sein (des Menschen) Alter morsch, noch durch seine Tötung vernichtet. Dies ist die wahre Brahmastadt. In ihr sind alle Wünsche enthalten. Dies ist das Selbst.

Es hat alle Übel abgeworfen, ist frei von Alter, Tod, Kummer, Hunger, Durst; wahrhaft in seinem Verlangen, wahrhaft in seinem Entschließen.

Wie die Menschen hier je nach Bestimmung sich einstellen und je nach dem Ziel, das sie erstreben, sei es ein Land, sei es ein Fleck Feldes, von diesem oder jenem leben, wie die Welt hier, die durch Arbeit erworben ist, zerrinnt, so zerrinnt auch die Welt dort, die durch religiöses Verdienst erworben ist. Die, welche, ohne den Âtman und die wahren Wünsche erkannt zu haben, von hinnen scheiden, genießen in allen Welten keine Freiheit. Aber die, welche nach Erkenntnis des Âtman und der wahren Wünsche von hinnen scheiden, genießen Freiheit in allen Welten.

Wenn einer nach der Welt der Väter verlangt, so erheben sich auf seinen Willen die Väter. Er gewinnt die Welt der Väter und wird groß.
Wenn er nach der Welt der Mütter verlangt, so erheben sich auf seinen Willen die Mütter. Er gewinnt die Welt der Mütter und wird groß.
Wenn er nach der Welt der Brüder verlangt, so erheben sich auf seinen Willen die Brüder. Er gewinnt die Welt der Brüder und wird groß.
Wenn er nach der Welt der Schwestern verlangt, so erheben sich auf seinen Willen die Schwestern. Er gewinnt die Welt der Schwestern und wird groß.
Wenn er nach der Welt der Freunde verlangt, so erheben sich auf seinen Willen die Freunde. Er gewinnt die Welt der Freunde und wird groß.
Wenn er nach der Welt der Wohlgerüche und Kränze verlangt, so erheben sich auf seinen Willen die Wohlgerüche und Kränze. Er gewinnt die Welt der Wohlgerüche und Kränze und wird groß.
Wenn er nach der Welt der Speise und des Trankes verlangt, so erheben sich auf seinen Willen Speise und Trank. Er gewinnt die Welt der Speise und des Trankes und wird groß.
Wenn er nach der Welt des Gesanges und der Musik verlangt, so erheben sich auf seinen Willen Gesang und Musik. Er gewinnt die Welt des Gesanges und der Musik und wird groß.
Wenn er nach der Welt der Weiber verlangt, so erheben sich auf seinen Willen die Weiber. Er gewinnt die Welt der Weiber und wird groß.

Welches Ziel er immer begehrt, nach welchem Wunsche er verlangt, all das erhebt sich auf seinen Willen. Er gewinnt es und wird groß.

All die wahrhaften Wünsche sind mit Unwahrheit überdeckt. Sie sind in Wahrheit da, aber die Unwahrheit ist über sie gedeckt. Wer immer von den Seinen von hier abscheidet, den bekommt man nicht mehr zu sehen.

Die Lebenden und Toten und was man sonst wünschend nicht erlangt, all das findet er, wenn er hierhin gegangen ist. Hier (im Innenraum) sind seine wahrhaften Wünsche, welche die Unwahrheit bedeckt. Wie man über einen verborgenen Goldschatz, dessen Stelle man nicht kennt, immer wieder hinwegläuft, ohne ihn zu finden, so finden alle diese Geschöpfe die Brahmawelt, obwohl sie Tag um Tag in sie eingehen, nicht. Denn sie sind durch Unwahrheit gebannt.

Dies Selbst ist im Herzen. Man erklärt das so: hridi ayam, es ist im Herzen. Wer so weiß, geht Tag um Tag in die Himmelswelt ein.«

»Die selige Ruhe, die aus diesem Körper aufsteigt, in den höchsten Glanz eingeht und in ihrer eigenen Gestalt zur Vollendung kommt, die ist der Âtman«, so sprach er. »Das ist das aller Gefahr entrückte Unsterbliche, das ist das Brahman. Dieses Brahman führt den Namen satyam

satyam: das sind drei Silben: sat, das ist das Unsterbliche; ti ist das Sterbliche; mit yam hält er beides fest. Weil er damit beides festhält, darum heißt es yam. Wer so weiß, geht Tag für Tag in die Himmelswelt ein.

Das Selbst ist die Brücke, die die Welten trennt, damit sie nicht zusammenstürzen. Tag und Nacht, Alter, Tod, Kummer, gute und schlechte Tat überschreiten diese Brücke nicht.

Alles Übel bleibt davon zurück. Die Brahmawelt hat das Übel besiegt. Darum, wer diese Brücke überschreitet, wird sehend, wenn er blind war, wird heil, wenn er verwundet war, wird gesund, wenn er krank war. Hat sie diese Brücke überschritten, wird auch die Nacht zum Tag. Ein für allemal ist hell die Brahmawelt.

Denen, die die Brahmawelt durch den heiligen Schülerstand finden, wird die Brahmawelt, wird Freiheit in allen Welten zuteil.

WAS IST DAS WAHRE SELBST?

»Das Selbst, das alle Übel überwunden hat, das frei ist von Alter, Tod, Kummer, Hunger, Durst, wahrhaft in seinem Verlangen, wahrhaft in seinem Entschließen, das soll man suchen, das soll man zu erkennen trachten. Alle Welten und alle Wünsche erlangt der, der das Selbst findet und erkennt.« So sprach Prajâpati.

Die Devas (Götter) und Asuras (Dämonen) beide erfuhren das. Sie sprachen: »Wohlan! wir wollen das Selbst suchen. Wer das Selbst sucht, erlangt alle Welten und alle Wünsche.« Da machten sich von den Göttern Indra und Virocana von den Asuras auf. Ohne sich miteinander verständigt zu haben, kamen sie mit Brennholz in der Hand zu Prajâpati.

Durch zweiunddreißig Jahre lebten sie in dem heiligen Schülerstand. Da sprach Prajâpati zu ihnen: »In welcher Absicht tatet ihr das?« Sie sprachen: »Das Selbst, das alle Übel überwunden hat, das frei ist von Alter, Tod, Kummer, Hunger und Durst, das wahrhaft ist in seinem Verlangen, wahrhaft in seinem Entschließen, das soll man suchen, das soll man zu erkennen trachten. Alle Welten und alle Wünsche erlangt der, der das Selbst findet und erkennt. Das verkünden sie als das Wort des Heiligen. In dieser Absicht taten wir das.«

Prajâpati sprach zu beiden: »Der Mann (das Männchen), den ihr im Auge sehet, der ist das Selbst«, so sprach er. »Das ist das Unsterbliche, das von Gefahr Freie. Das ist das Brahman.« »Aber der, Heiliger, den man im Wasser gewahrt, der, den man im Spiegel gewahrt, was für einer ist das?« »Man gewahrt ein und denselben allerorten.«

»Betrachtet euch in einem Gefäß voll Wasser. Was ihr von euch darin nicht wahrnehmet, das sagt mir.« Sie betrachteten sich in einem Gefäß voll Wasser. Prajâpati sprach zu ihnen: »Was seht ihr?« Sie sprachen: »Heiliger, wir sehen uns hier ganz, bis zu den Haaren und Nägeln, im Bilde.«

Da sprach Prajâpati zu ihnen: »Schmückt euch schön, legt schöne Kleider an, putzt euch und blickt dann in das Gefäß mit Wasser.« Sie schmückten sich schön, legten schöne Kleider an, putzten sich und blickten in das Gefäß mit Wasser. Prajâpati sprach darauf zu ihnen: »Was sehet ihr?«

Sie sprachen: »Ganz so, wie wir, o Herr, schön geschmückt, mit schönen Kleidern angetan und geputzt sind, so sind diese beiden (im Spiegelbilde) schön geschmückt, mit schönen Kleidern angetan und geputzt.« »Das ist das Selbst«, so sprach er darauf, »das ist das Unsterbliche, das von Gefahr Freie, das ist das Brahman.« Beruhigten Herzens zogen sie da von dannen.

Prajâpati blickte ihnen nach und sprach: »Ohne das Selbst wahrgenommen zu haben, ohne das Selbst gefunden zu haben, ziehen sie dahin. Wer von ihnen diese geheime Lehre befolgt, seien es die Götter, seien es die Asuras, der wird zugrunde gehen.« Beruhigten Herzens also ging Virocana zu den Asuras. Er teilte ihnen diese geheime Lehre mit: sein Selbst muß man hegen, sein Selbst muß man pflegen. Wer sein Selbst hegt, sein Selbst pflegt, erreicht beide Welten, diese und jene.

Darum sagt man auch jetzt noch von einem, der hier nicht schenkt, nicht glaubt, nicht opfert: »Fürwahr, das ist einer von den Asuras !« Denn das ist die Lehre der Asuras. Sie rüsten den Körper eines Verstorbenen mit erbettelter Gabe <mit einem Gewand, mit Schmuck>, und bilden sich ein, sie werden damit jene Welt gewinnen.

Aber noch ehe Indra zu den Göttern gekommen war, kam ihm das Bedenken: Ganz so wie dieses Selbst in dem Körper, der schön geschmückt ist, schön geschmückt erscheint, schön bekleidet in einem, der schön bekleidet ist, geputzt in einem, der geputzt ist, ebenso erscheint es blind in einem blinden, lahm in einem lahmen, verstümmelt in einem verstümmelten Leibe. Es folgt dem Leibe in der Vernichtung nach. Ich sehe hier nichts, dessen man sich erfreuen kann.

Er nahm Brennholz in die Hand und kehrte wieder zurück. Da sprach Prajâpati zu ihm: »Herr, beruhigten Herzens zogst du doch zusammen mit Virocana von dannen. In welcher Absicht kehrtest du wieder zurück?« Der sprach: »Ganz so, wie dieses Selbst, Heiliger, in dem Körper, der schön geschmückt ist, schön geschmückt erscheint, schön bekleidet in einem, der schön bekleidet ist, geputzt in einem, der geputzt ist, ebenso erscheint es blind in einem blinden, lahm in einem lahmen, verstümmelt in einem verstümmelten Leibe. Es folgt in der Vernichtung dem Leibe nach. Ich sehe hier nichts, dessen man sich erfreuen kann.«

»Ganz so steht's damit, Herr«, sprach da Prajâpati, »ich will es dir aber noch weiter erklären. Verbleibe abermals zweiunddreißig Jahre in dem heiligen Schülerstand.« Er verblieb abermals zweiunddreißig Jahre darin. Da sagte zu ihm Prajâpati:

»Der, der wohlgemut im Traum umherzieht, das ist das Selbst.« So sprach er. »Das ist das Unsterbliche, das von Gefahr Freie; das ist das Brahman.« Beruhigten Herzens zog Indra da von dannen. Aber noch ehe er zu den Göttern gekommen war, kam ihm das Bedenken: Auch wenn der Körper blind ist, ist zwar das Selbst nicht blind; wenn er lahm ist, nicht lahm; nicht wird es durch seine Fehler fehlerhaft; nicht wird es durch seine Vernichtung getötet. Aber dennoch scheint man es zu töten, scheint man es zu verjagen, scheint es Unangenehmes zu empfinden, scheint es auch zu weinen. Ich sehe hier nichts, dessen man sich erfreuen kann.

Er nahm Brennholz in die Hand und kehrte wieder zurück. Da sprach Prajâpati zu ihm: »Herr, beruhigten Herzens zogst du doch von dannen. In welcher Absicht kehrtest du wieder zurück?« Der sprach: »Heiliger! Auch wenn der Körper blind ist, ist zwar das Selbst nicht blind, wenn er lahm ist, nicht lahm; nicht wird es durch seine Fehler fehlerhaft, nicht durch seine Vernichtung getötet. Aber dennoch scheint man es zu töten, scheint man es zu verjagen, scheint es Unangenehmes zu empfinden, scheint es auch zu weinen. Ich sehe hier nichts, dessen man sich erfreuen kann.« »Ganz so steht's damit, Herr«, sprach Prajâpati. »Ich will es dir aber noch weiter erklären. Verbleibe abermals zweiunddreißig Jahre in dem heiligen Schülerstand.« Er verblieb abermals zweiunddreißig Jahre darin. Da sagte Prajâpati zu ihm:

»Wenn einer in (tiefem) Schlaf befindlich, glücklich und ruhig keine Traumerscheinung hat, das ist der Âtman.« So sprach er. »Das ist das Unsterbliche, das von Gefahr Freie. Das ist das Brahman.« Beruhigten Herzens zog Indra da von dannen. Aber noch ehe er zu den Göttern gekommen war, kam ihm das Bedenken: Nicht weiß ja dieser in solcher Lage in bezug auf sein Selbst: »Das bin ich«, auch nicht, »(das sind) die Wesen«. Er ist der Vernichtung anheimgefallen. Ich sehe hier nichts, dessen man sich erfreuen kann.

Er nahm Brennholz in die Hand und kehrte wieder zurück. Da sprach Prajâpati zu ihm: »Herr, beruhigten Herzens zogst du doch von dannen. In welcher Absicht kehrtest du wieder zurück?« Der sprach: »Heiliger, dieser in solcher Lage weiß ja nicht in bezug auf sein Selbst »das bin ich«, auch nicht, »(das sind) die Wesen«. Er ist der Vernichtung anheimgefallen. Ich sehe hier nichts, dessen man sich erfreuen kann.«

»Ganz so steht's damit, Herr«, sprach Prajâpati. »Ich will es dir aber noch weiter erklären; aber nicht anders als unter der Bedingung: verbleibe abermals fünf Jahre im heiligen Schülerstand.« Er verblieb abermals fünf Jahre darin. Das ergab zusammen hundert und ein Jahr. Darum sagt man: »Hundert und ein Jahr verweilte der Herr bei Prajâpati im heiligen Schülerstand.« Er sprach zu ihm:

»Herr, sterblich ist dieser Leib und vom Tode umfangen. Er ist der Sitz des unsterblichen, körperlosen Selbst (Âtman). Umfangen von Freud und Leid ist es, solange es in einem Körper wohnt. Nicht lassen sich Freud und Leid, solange es in einem Körper wohnt, abwehren. Wenn es aber körperlos ist, berühren es Freude und Leid nicht.

Körperlos ist der Wind; Wolke, Blitz, Donner sind körperlos: So wie diese aus jenem Raume sich erheben, in das höchste Licht eingehen und jedes in seiner besonderen Gestalt hervortreten, so erhebt diese selige Stille sich aus diesem Körper, geht ein zum höchsten Licht und tritt in ihrer eigenen Gestalt hervor. Sie ist der höchste Geist. Sie wandert in ihm (dem Leibe) essend, spielend, bald mit Frauen, bald mit Wagen, bald mit Verwandten sich unterhaltend, umher, ohne sich zu erinnern, daß der Leib nur ein Anhängsel ist. Sie ist an ihn wie ein Zugtier an einen Karren gespannt. Ganz ebenso ist der Hauch, der Prâna, an diesen Leib gespannt.

Wenn das Auge sich in den Raum richtet, so ist das Selbst der Geist im Auge; das Auge dient ihm nur zum Sehen. Wer da weiß, »das rieche ich«, so ist das das Selbst; die Nase dient ihm nur zum Riechen. Wer da weiß, »das sage ich«, so ist das das Selbst; die Stimme dient ihm nur zum Reden. Wer da weiß, »das höre ich«, so ist das das Selbst; das Ohr dient ihm nur zum Hören. Wer da weiß, »das denke ich«, so ist das das Selbst; der Verstand ist sein göttliches Auge. Mit diesem seinem göttlichen Auge, dem Bewußtsein, erfreut er sich am Anblick der gewünschten Dinge.

Die Götter verehren dieses Selbst in der Brahmawelt: darum sind alle Welten und alle gewünschten Dinge für sie gewonnen. Aller Welten und aller gewünschten Dinge wird der teilhaftig, der dieses Selbst findet und erkennt.«

So sprach Prajâpati. So sprach Prajâpati.


Zurück Inhaltsverzeichnis Weiter