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Shrimad Rajchandra - Atma Siddhi

Seit uralten Zeiten schauen sich die Menschen an und fragen: Wer oder was ist dieses „Ich“? Schon zahllose Kulturen haben auf ihre Weise versucht, eine Antwort auf dieses große Geheimnis zu finden. Früher suchten die Menschen mehr im geistig Inneren, heutzutage suchen wir mehr im materiell Äußeren. Doch noch immer ist es ein großes Geheimnis.

1867 wurde im indischen Gujarat ein sehr begabter Mann geboren, der später den Titel „Shrimad Rajchandra“ bekam. Er wuchs zwischen zwei Welten auf, mütterlicherseits wurde er vom Jainismus geprägt und väterlicherseits vom Vaisnava-Hinduismus. Auch er begab sich auf die Suche nach der Seele, dem Selbst oder Atma, wie es auf Sanskrit heißt, um das große Geheimnis des Lebens zu erkunden. Hat er eine Antwort gefunden? Mit 29 Jahren verfaßte er für seine Schüler einen Text aus 142 kernigen Versen über die „Atma Siddhi“, was man mit „Selbst-Verwirklichung“ übersetzen kann. Es heißt, dieser Text entstand fehlerfrei innerhalb von 2 Stunden, während ein Schüler neben ihm stand und die Laterne hielt. Wir haben mehrere Monate benötigt, um diesen Text in verschiedenen englischen Übersetzungen zu studieren und mit dem Gujarati-Original zu vergleichen. Daraus ist schließlich die vorliegende deutsche Übersetzung entstanden. Es ist natürlich kein einfacher Text, den man so nebenbei mal lesen kann. Dafür hat er sicherlich ein großes Potential zum Nachdenken und Meditieren. In diesem Sinne wünschen wir viel Inspiration und Erfolg auf der großen Suche nach dem Selbst.

Nilesh & Jens

Atma-Siddhi - Selbst-Verwirklichung

Kapitel 1 - Der grundsätzliche Weg
Kapitel 2 - Die Eigenschaften eines Fanatikers
Kapitel 3 - Die Eigenschaften des wahrhaft Suchenden
Kapitel 4 - Sechs gedankliche Grundlagen
Kapitel 5 - Das Selbst existiert
Kapitel 6 - Das Selbst ist ewig
Kapitel 7 - Dein Selbst ist der Handelnde
Kapitel 8 - Dein Selbst trägt die Früchte des Handelns
Kapitel 9 - Befreiung ist möglich
Kapitel 10 - Der Weg zur Befreiung
Kapitel 11 - Der Weg des Schülers
Kapitel 12 - Schlussworte

Kapitel 1 - Der grundsätzliche Weg

Ohne das wahre Wesen des Selbst erkannt zu haben, ertrug ich unendliches Leid.
Ich verneige mich vor dem ehrenwerten Guru, der uns das Selbst gelehrt hat. (1)

Wir leben in einer Zeit, wo der Pfad zur Befreiung schwer zu finden ist.
So sei er hier für alle, die das wahre Selbst suchen, deutlich beschrieben. (2)

Manche wurden zu leblosen Ritualisten, andere zu bloßen Gelehrten.
Beide glauben damit, den Weg der Befreiung zu gehen. Ihnen gehört mein Mitgefühl! (3)

Leblose Ritualisten pflegen ihre äußeren Riten ohne innere Erkenntnis.
Sie missachten den Pfad zur Selbsterkenntnis und werden daher leblos genannt. (4)

Bloße Gelehrte bezeichnen Bindung und Befreiung als Illusion,
denn sie selbst werden von Illusion beherrscht. (5)

Entsagung und andere Gelübde sind heilsam, soweit sie von Selbsterkenntnis begleitet sind.
Nur dann können sie als Hilfsmittel zur Selbstverwirklichung dienen. (6)

Selbsterkenntnis ist unerreichbar ohne Entsagung und Nichtanhaftung im Herzen.
Aber Entsagung und Nichtanhaftung allein ist noch keine Selbsterkenntnis. (7)

Wer überall und immer das Wahre erkennt und entsprechend handelt,
ist auf dem Weg zur Selbstverwirklichung. (8)

Wer persönliche Ansichten aufgibt und den Geboten des wahren Gurus (Satguru) folgt,
kann die Wahrheit erkennen und erreicht das wahre Wesen des Selbst. (9)

Selbsterkenntnis, Gleichmut, heilsames Handeln und wahrhafte Rede, die zum höchsten Ziel führt, daran erkennt man den wahren Guru. (10)

Ohne die Anwesenheit des wahren Gurus versteht man kein Wort von der Wahrheit.
Ohne seine Gegenwart kann keine Meditation über das wahre Selbst entstehen. (11)

Ohne die Lehre des wahren Gurus ist das Selbst nicht zu erkennen.
Verstehst Du das Problem? Nur Erkenntnis führt zur Wahrheit. (12)

Die Schriften über das Wesen des Selbst sind die Stütze der Suchenden,
bis der Verdienst erreicht ist, dass der wahre Guru im Herzen erscheint. (13)

Dann lässt man alle gegensätzlichen Ansichten der Bücher hinter sich,
und meditiert über die Weisheit des wahren Gurus in ganzer Tiefe. (14)

Wer die Illusion der Ichhaftigkeit überwindet, erreicht zweifellos Befreiung.
Schon unzählige Seelen haben es erreicht, wie die Heiligen bestätigen. (15)

Durch die Verbindung mit dem wahren Guru vergeht die Illusion der Ichhaftigkeit.
Auf vielen anderen Wegen verdoppelt sie sich nur. (16)

Wer dem wahren Guru folgt und jede Ichhaftigkeit aufgibt, die auf persönlichen Standpunkten beharrt, der gewinnt die wahre Sicht, weil damit die Ursachen dafür gegeben sind. (17)

Mächtige Feinde wie der Egoismus können nicht mit ichhafter Gewalt überwunden werden.
Doch unter dem Segen des wahren Gurus vergehen sie mit Leichtigkeit. (18)

Wer die wahre Sicht durch die Belehrung eines wahren Gurus empfängt,
der verehrt den Guru mit ganzem Herzen, ob er erleuchtet erscheint oder nicht. (19)

Die Heiligen, die Befreiung erreicht haben, verkünden diesen Pfad der Verehrung.
Doch nur wenige gesegnete Seelen können die große Bedeutung dieses Pfades verstehen. (20)

Wenn ein unwahrhafter Guru diese Verehrung in unangemessener Weise ausnutzt,
versinkt er durch das starke Karma seiner Illusion im Ozean der körperlichen Bindung. (21)

Der wahrhaft Suchende kann diesen Weg verstehen. Wer an persönlichen Ansichten haftet,
versteht es falsch, und wird (durch seine Verehrung) auf Abwege kommen. (22)

Er wird zum Fanatiker und kann keine wahre Selbsterkenntnis finden.
Die Eigenschaften eines Fanatikers werden im folgenden Kapitel allgemein beschrieben. (23)

Kapitel 2 - Die Eigenschaften eines Fanatikers

Der Fanatiker sucht einen äußerlichen Guru mit oberflächlicher Entsagung und Weisheit.
Er folgt den Gewohnheiten seiner Umgebung, in der er geboren wurde. (24)

Er betrachtet die Äußerlichkeiten eines Heiligen und die Herrlichkeit seiner Versammlung als wesentliche Eigenschaften und beschränkt seine ganze Intelligenz darauf. (25)

Selbst wenn ihm der wahre Guru begegnet, wendet er sich ab und beharrt auf seiner illusorischen Ansicht, um seinen egoistischen Stolz zu befriedigen. (26)

Er betrachtet die Unterscheidung himmlischer und anderer Existenzen als Essenz der heiligen Schriften, und glaubt, dass die Anhaftung an seine persönliche Sicht zur Befreiung führt. (27)

Er erkennt nicht die Neigung seiner ständigen Gedanken und ist stolz auf seine religiösen Rituale, um weltliche Anerkennung zu erlangen, ohne den Pfad zur Seligkeit zu gehen. (28)

Der Fanatiker vertritt die Wahrheit nur als persönlichen Standpunkt in äußerlichen Worten.
Ein wahrhaftes Leben lehnt er ab, so dass er den Weg zur Selbstverwirklichung verliert. (29)

Er erreicht weder Selbsterkenntnis, noch verfügt er über die Mittel dafür.
Wer mit ihm verkehrt, versinkt im Ozean weltlicher Bindung. (30)

Ein Fanatiker entsteht durch oberflächliches Wissen aufgrund von Egoismus usw.
Er verlässt den heilsamen Pfad und verliert seine Würde für das höchste Ziel. (31)

Unglück ist das Los des Fanatikers, der seine Leidenschaft nicht beruhigt hat, keine innere Freiheit kennt und weder aufrichtig noch unparteiisch ist. (32)

So wurden die Eigenschaften eines Fanatikers aufgezeigt, um sie zu überwinden.
Jetzt beschreibe ich den wahrhaft Suchenden, um die höchste Seligkeit zu erreichen. (33)

Kapitel 3 - Die Eigenschaften des wahrhaft Suchenden

Wo es Selbsterkenntnis gibt, gibt es innere Stille. Das ist der wahre Guru.
Wahrhafte Suche geht weit über die Riten der Familienpriester hinaus. (34)

Er ist unendlich dankbar für die lebendige Verbindung zum wahren Guru.
Der wahrhaft Suchende folgt ihm ganzheitlich mit Körper, Rede und Denken. (35)

In allen drei Zeiten gibt es nur einen Weg zur höchsten Glückseligkeit.
Allein dieser Weg zur Glückseligkeit ist es wert, gegangen und verkündet zu werden. (36)

Mit diesem Ziel sucht der wahrhafte Schüler die Nähe des wahren Gurus.
Sein einziger Wunsch ist die Selbstverwirklichung, einen anderen Mangel kennt er nicht. (37)

Wahrhafte Suche ist dort, wo sich die Leidenschaft beruhigt, die Befreiung als höchstes Ziel,
wo körperliche Existenz ein Ort des Leidens ist, voller Mitgefühl für alle Wesen. (38)

Solange dieser Zustand nicht erreicht ist, geht man nicht den Weg zur Befreiung,
und die innere Krankheit kann nicht geheilt werden. (39)

Die Lehre des wahren Gurus hilft, diesen Zustand zu erreichen.
Aus dieser Lehre erhebt sich der Geist der Glückseligkeit. (40)

Mit dem wahren Geist kommt die Selbsterkenntnis.
Und wenn durch Erkenntnis jede Illusion verschwindet, dann ist bald Befreiung erreicht. (41)

Damit der wahre Geist entsteht, und der Pfad der Befreiung erkannt wird,
gebe ich nun sechs gedankliche Grundlagen im Gespräch zwischen Guru und Schüler. (42)

Kapitel 4 - Sechs gedankliche Grundlagen

Das Selbst existiert, es ist ewig, und es ist der Handelnde in allen Taten.
Es trägt die Früchte des Handelns, es gibt Befreiung und einen Weg zur Befreiung. (43)

Das sind sechs kurzgefasste Grundlagen als gedankliche Stützen.
Erleuchtete verkünden sie, um den Weg zur Wahrheit aufzuzeigen. (44)

Kapitel 5 - Das Selbst existiert

Schüler:
Ich kann das Selbst nicht sehen oder in irgendeiner Form erkennen.
Ich kann es (mit Sinnen und Gedanken) nicht erfassen, deshalb existiert es nicht. (45)

Ich glaube nicht, dass es von Körper, Sinnesorganen und Lebensatem getrennt existiert,
denn ich kann keinen Unterschied sehen. (46)

Wenn das Selbst existiert, warum kann ich es nicht erkennen?
Warum sehe ich es nicht vor mir wie einen Topf oder ein Tuch? (47)

Deshalb gibt es kein Selbst, und jeder Versuch, es zu befreien, ist nutzlos.
Bitte zeige mir den rechten Weg, um meine Zweifel zu lösen. (48)

Guru:
Durch Illusion wird das Selbst mit dem Körper identifiziert und scheint körperlich zu sein.
Aber beide sind unabhängig voneinander, wie man an ihren Eigenschaften erkennen kann. (49)

Durch Illusion wird das Selbst mit dem Körper identifiziert und scheint körperlich zu sein.
Doch sie sind verschieden, wie das Schwert und seine Scheide. (50)

Was mit den Augen sieht und alle Formen erkennt,
was die direkte Erfahrung erfährt, das ist das innere Selbst. (51)

Jeder Sinn reagiert auf seine entsprechenden Sinnesobjekte,
doch das Selbst ist der Erkennende der Objekte aller fünf Sinne. (52)

Weder der Körper, noch die Sinne oder der Lebensatem können das Selbst erkennen.
Denn nur durch die Gegenwart des Selbst entsteht die Fähigkeit zur Erkenntnis. (53)

Das wahre Selbst ist stets unabhängig.
Das manifestierte Bewusstsein ist seine allgegenwärtige Eigenschaft. (54)

Du glaubst an die Existenz von Topf oder Tuch, weil du sie erkennst.
Was hindert dich, an den Erkennenden zu glauben, wo doch der Erkennende in dir ist? (55)

Kraftvolle Intelligenz findet man in schwachen Körpern und schwache Intelligenz in starken Körpern. Wenn der Körper das Selbst wäre, könnte dies nicht geschehen. (56)

Die Eigenschaften von lebloser Materie und erkennendem Bewusstsein sind unterschiedlich.
Sie werden in allen drei Zeiten niemals Eins werden. (57)

Die Existenz des Selbst wird von ihm selbst angezweifelt.
Ist es nicht ein großes Wunder, dass das Selbst seine eigene Existenz bezweifelt? (58)

Kapitel 6 - Das Selbst ist ewig

Schüler:
Du hast mir verschiedene Aspekte von der Existenz des Selbst erklärt.
Wenn man darüber nachdenkt, ist es glaubwürdig. (59)

Doch sogleich erhebt sich ein weiterer Zweifel bezüglich der Unvergänglichkeit des Selbst.
Es könnte doch auch mit dem Körper entstehen und mit ihm vergehen. (60)

In dieser Welt ist alles vergänglich, und jedes Ding verändert sich in jedem Moment.
Nach dieser Erfahrung kann auch das Selbst nicht ewig sein. (61)

Guru:
Der Körper ist eine formhafte Ansammlung von lebloser Materie.
Wer ist es, der die Entstehung und Auflösung betrachten und erkennen kann? (62)

Wer das Entstehen und Auflösen des Körpers von außen beobachten kann,
muss zwangsläufig verschieden sein, sonst könnte er es nicht erkennen. (63)

Alles, was entsteht, sich verändert und vergeht, kann vom Selbst beobachtet werden.
Das Selbst entsteht nicht aus etwas anderem, deswegen ist es ewig und unvergänglich. (64)

Wer hat jemals beobachtet, wie Bewusstsein aus lebloser Materie entsteht oder sich in leblose Materie verwandelt? (65)

Was nicht aus etwas anderem entsteht, kann auch nicht zerstört werden.
Deshalb ist das Selbst ewig. (66)

Wie der Zorn von Schlangen, so werden auch in anderen Geschöpfen viele Eigenschaften von Geburt zu Geburt vererbt. Auch das beweist die Ewigkeit des Selbst. (67)

Als Wesen ist das Selbst ewig, aber seine Erscheinung verändert sich ständig,
so erfährt es in einer Person Geburt, Jugend und Alter. (68)

Das Wesen, das über die beobachtete Vergänglichkeit spricht, ist selbst unvergänglich.
Diese Erfahrung kann jeder selbst verwirklichen. (69)

Keine Substanz kann völlig vernichtet werden, sie wandelt sich nur.
Worin könnte sich also das Bewusstsein wandeln, wenn es vergänglich wäre? (70)

Kapitel 7 - Dein Selbst ist der Handelnde

Schüler:
Mein Selbst kann nicht der Handelnde sein, denn Handeln entsteht durch Karma.
Vermutlich ist es das Wesen der Natur, zu handeln und Karma anzusammeln. (71)

Denn das reine Selbst ist immer ungebunden, nur die äußere Natur schafft Bindung.
Oder es ist Gott, der zum Handeln treibt, aber mein Selbst bleibt ungebunden. (72)

Warum sollte man also einen Weg zur Befreiung suchen?
Entweder ist mein Selbst vom Handeln grundsätzlich frei oder ewig damit verbunden. (73)

Guru:
Wenn das Bewusstsein in dir nicht die Grundlage wäre, wer könnte das Handeln hervorbringen?
Untersuche die leblose Materie, sie hat keine Fähigkeit zum Handeln. (74)

Wenn sich das Bewusstsein nicht involviert, gibt es kein Handeln.
So ist das Handeln weder das innere Wesen noch eine äußere Eigenschaft von deinem Selbst. (75)

Wenn also dein Selbst völlig ungebunden ist, warum erlebst du es nicht?
In Wahrheit ist es völlig ungebunden, und genau das gilt es zu verwirklichen. (76)

Auch Gott ist nicht der Handelnde, denn Gott ist völlige Reinheit.
Wenn dich Gott zum Handeln treiben würde, müsste er sich in Unreinheit verstricken. (77)

Wenn das Bewusstsein im reinen Selbst verweilt, dann handelt es entsprechend frei.
Ohne diese Selbsterkenntnis wird der Mensch vom Handeln gebunden. (78)

Kapitel 8 - Dein Selbst trägt die Früchte des Handelns

Schüler:
Gut, mag mein Selbst der Handelnde sein, aber die Früchte muss es sicherlich nicht ertragen.
Denn wie könnte lebloses Karma so intelligent sein, entsprechend fruchtbar zu werden? (79)

Ich könnte mir noch vorstellen, dass Gott die Früchte des Handelns meinem Selbst zuweist.
Aber damit würde Gott seine ganze Seligkeit verlieren. (80)

Doch ohne die Anwesenheit von Gott, würde es keine Ordnung in der Welt geben.
Es gäbe auch keine Orte, an denen man verdienstvolles und sündhaftes Karma erfahren muss. (81)

Guru:
Das karmische Handeln entsteht durch dein Selbst, und daher erscheint es lebendig.
Die Energie von deinem Selbst wirkt auf die leblose Materie und dringt in sie ein. (82)

Weder Gift noch Nektar können ihre eigene Wirkung verstehen, wer sie aber konsumiert, erfährt sie.
Ähnlich erfährt dein Selbst die Früchte deiner verdienstvollen und sündhaften Taten. (83)

Der eine wird im Leben zum König, der andere zum Bettler.
Das geschieht durch Ursachen und zeigt die Früchte deiner verdienstvollen und sündhaften Taten. (84)

Dafür braucht man keinen äußeren Gott, der die Früchte in Form von Wirkungen verteilt.
Alle deine Taten werden durch ihr Wesen fruchtbar und wirken, bis die Früchte erschöpft sind. (85)

So entstehen die Orte, um die Früchte entsprechend zu genießen oder zu erleiden.
Oh Schüler, das ist ein weites Feld, und ich habe es hier nur kurz angesprochen. (86)

Kapitel 9 - Befreiung ist möglich

Schüler:
Gut, mein Selbst handelt und trägt die Früchte. Aber wie könnte es Befreiung geben?
Unendlich viel Zeit ist schon vergangen, und mein Selbst ist immer noch gebunden. (87)

Wenn es verdienstvoll handelt, genießt es die Früchte im Himmel. Wenn es sündhaft handelt,
erleidet es die Früchte in der Hölle. So bleibt mein Selbst an das Handeln gebunden. (88)

Guru:
Wie verdienstvolles und sündhaftes Handeln seine Früchte bringt,
so bringt auch das Nichthandeln seine Frucht. Und diese Frucht ist die Befreiung. (89)

Unendliche Zeit hast du das verdienstvolle und sündhafte Handeln gepflegt.
Wenn Verdienst und Sünde wurzeltief beendet werden, dann entsteht die Befreiung. (90)

Sobald sich dein Selbst von der körperlichen Abhängigkeit löst,
steht es in ewiger Freiheit und erfährt endlose Seligkeit. (91)

Kapitel 10 - Der Weg zur Befreiung

Schüler:
Gut, wenn es auch Befreiung gibt, so sehe ich doch keinen verlässlichen Weg dahin.
Wie könnte das fruchtbringende Handeln, das seit Ewigkeiten herrscht, beendet werden? (92)

Es werden von den Religionen der Welt viele verschiedene Wege zur Befreiung gelehrt.
Welcher von ihnen der richtige Weg ist, kann ich nicht entscheiden. (93)

Welche Kaste führt mich zur Befreiung?
In welchem Körper (Frau oder Mann) kann ich Befreiung erreichen? (94)

Wer könnte in dieser Vielfalt das richtige Mittel finden?
Was soll es nützen, mein Selbst und alles andere (Nicht-Selbst) zu erkennen? (95)

Deine ersten fünf Antworten haben meine Zweifel gelöst.
Wenn ich noch den richtigen Weg erfahren könnte, wäre ich glücklich. (96)

Guru:
Wie dein Vertrauen mit den ersten fünf Antworten entstanden ist,
so kann dein Vertrauen auch in den Weg zur Befreiung entstehen. (97)

Das Karma ist Unwissenheit, während das Dasein im Selbst Befreiung ist.
Die Unwissenheit ist Dunkelheit, die durch das Licht der Selbsterkenntnis verschwindet. (98)

Die Ursachen für Bindung formen den Weg zur Bindung.
Das Entwurzeln dieser Ursachen formt den Weg zur Befreiung und erlöst von der Körperlichkeit. (99)

Begierde, Hass und Unwissenheit bilden die Hauptknoten des Karmas.
Ihre Überwindung ist der verlässliche Weg zur Befreiung. (100)

Das ist der Weg, um das wahre und unvergängliche Selbst ohne körperliche Illusion zu erkennen.
Das ist reines Bewußtsein, der Weg zur höchsten Befreiung. (101)

Von den unendlich vielen Arten von Karma, sind acht besonders wichtig.
Diese acht werden vom Karma der Täuschung angeführt. Höre, wie es zu vernichten ist. (102)

Das Karma der Täuschung äußert sich zweifach bezüglich der Wahrnehmung und des Verhaltens.
Es vergeht durch Selbsterkenntnis und Nichtanhaftung. Das ist der sicherste Weg. (103)

Die Bindung durch das Karma von Zorn usw. vergeht durch Vergebung.
Das ist eine allgemeine Erfahrung. Wer würde daran zweifeln? (104)

Je mehr man verhärtete Ansichten und Standpunkte aufgibt und dem genannten Weg folgt,
desto weniger Geburten muss man künftig noch ertragen. (105)

Du hast über die sechs Grundsätze nachgedacht und sechs Fragen gestellt.
Sei versichert, dass darin der verlässliche Weg zur Befreiung liegt. (106)

Es gibt keine Unterschiede in der Kaste oder anderer Äußerlichkeiten auf diesem Weg.
Wer ihn geht, erreicht zweifellos die Befreiung. (107)

Wer die Leidenschaft zügelt, der körperlichen Illusion entsagt, allein nach Befreiung strebt
und im Herzen Mitgefühl zu allen Wesen hegt, wird als wahrhaft Suchender bezeichnet. (108)

Wenn solch ein Suchender vom wahren Guru die Selbsterkenntnis empfängt,
richtet er seinen Blick nach innen und erreicht die wahre Sicht. (109)

Wer so dem wahren Guru folgt und alle verhärteten Ansichten und Standpunkte aufgibt,
erreicht die wahre Sicht jenseits aller Gegensätze. (110)

Wenn Erfahrung, Erkenntnis und Bewusstsein des eigenen wahren Selbst herrschen,
und der Blick nach innen gerichtet ist, dann spricht man von wahrer Sicht. (111)

Mit der wahren Sicht verschwindet jegliche Illusion.
Daraus entsteht wahrhaftes Verhalten, und so kann man völlig ungebunden verweilen. (112)

Die ununterbrochene Erkenntnis des wahren Selbst wird auch Allwissenheit genannt.
Das ist die große Befreiung, auch wenn der Körper noch existiert. (113)

Wie ein endlos langer Traum mit dem Erwachen verschwindet,
so verschwindet die endlos lange Illusion mit der Erleuchtung durch Selbsterkenntnis. (114)

Wenn die Identifikation mit dem Körper vergeht, bist du weder der Handelnde noch musst du die Früchte ertragen. Das ist das große Geheimnis des wahren Weges. (115)

Dieser Weg führt zur Befreiung. Du bist die Befreiung selbst, reines Bewusstsein, grenzenlose Sicht und unvergängliche Glückseligkeit. (116)

Du bist das reine Selbst, allwissend, reines Bewusstsein, selbststrahlend und glückselig.
Was kann man sonst noch sagen? Denke darüber nach, und du wirst das Ziel erreichen! (117)

Darin ist die Essenz aller Erleuchteten beschlossen...
Damit schwieg der Guru und vertiefte sich im Selbst. (118)

Kapitel 11 - Der Weg des Schülers

Durch den Segen des wahren Gurus erreicht der Schüler die unvergleichliche Erkenntnis.
So erkennt er sein wahres Selbst und wird von Unwissenheit befreit. (119)

Das Selbst erscheint ihm als reines Bewusstsein,
ohne Alter, unsterblich, körperlos, unvergänglich und alldurchdringend. (120)

Solange die Illusion herrscht, ist er persönlich der Handelnde und trägt seine Früchte.
Fließt das Bewusstsein zum eigenen wahren Wesen, wird er zum Nichthandelnden. (121)

Oder er handelt als alles Erkennender und Sehender,
der im Wesen glückselig und reines Bewusstsein ist. (122)

Befreiung ist Selbst-Reinigung, und diese Verwirklichung ist der Weg.
So hat der wahre Guru den ganzen Weg kurzgefasst erklärt. (123)

Oh gesegneter Guru! Du unergründlicher Ozean des Mitgefühls!
Du hast, oh Herr, diesem erbärmlichen Schüler das Höchste gegeben. (124)

Oh Herr, was könnte ich zu deinen Füßen niederlegen? Alles ist Nichts im Vergleich zum Selbst.
Du hast mir das Selbst geschenkt. So lege ich mich selbst zu deinen Füßen und gehe den Weg. (125)

Dieser Körper sei nun ganz im Dienst dem Herrn gewidmet.
Möge ich sein Diener sein, der demütigste Diener des Herrn. (126)

Du hast mir die sechs Grundlagen erklärt und gezeigt, dass sich der Körper vom Selbst unterscheidet wie die Scheide vom Schwert. Diese Gabe ist unermesslich. (127)

Kapitel 12 - Schlussworte

Alle sechs großen Lehren sind in diesen sechs gedanklichen Grundlagen enthalten.
Wer darüber meditiert, dem werden sich alle Zweifel lösen. (128)

Keine Krankheit ist größer als die Ich-Täuschung, kein Arzt besser als der wahre Guru,
keine Diät wirksamer als seine Gebote und keine Medizin heilsamer als die Meditation. (129)

Mühe dich ernsthaft und aufrichtig, die höchste Wahrheit zu erreichen.
Verliere nicht die Suche nach dem Selbst im Namen der Weltlichkeit. (130)

Gib nicht die Mittel auf, die du als Weg zum Ziel erfahren hast.
Verwende die Mittel sinnvoll, um das große Ziel zu erreichen. (131)

Hier geht es weder um eine absolute Ansicht, noch um einen relativen Standpunkt.
Hier geht es darum, beides zu durchschauen. (132)

Verhärtete Ansichten oder Standpunkte sind nicht der wahre Weg.
Eine Sicht, die vom Wesen des Selbst ablenkt, kann nicht zur Wahrheit führen. (133)

Das ist der wahre Weg, den die Erleuchteten der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gegangen sind, gehen und gehen werden. (134)

Jedes Wesen ist heilig. Wer das erkennt, erreicht die Befreiung.
Die Gebote des wahren Gurus und die Allwissenheit sind nur Werkzeuge dafür. (135)

Wer diese Werkzeuge im Namen des Schicksals verwirft,
wird verblendet bleiben und kann keine Befreiung erreichen. (136)

Wer nur äußerlich über Befreiung redet und innerlich gebunden bleibt,
lebt wie ein Heuchler, der sich damit von der Erleuchtung entfernt. (137)

Mitgefühl, Zufriedenheit, Gleichmut, Vergebung, Wahrhaftigkeit, Entsagung und Nichtanhaftung sollten stets im Herzen eines wahrhaft Suchenden sein. (138)

Der Zustand, wenn die Illusion der Anhaftung vernichtet oder beruhigt ist,
wird Selbsterkenntnis genannt. Alles andere ist Täuschung. (139)

Der Zustand, wenn das ganze Universum wie ein Nahrungsrest oder ein Traum erscheint,
wird Selbsterkenntnis genannt. Alles andere ist auswendig gelerntes Wissen. (140)

Wer über die fünf Grundlagen meditiert und nach der sechsten handelt,
erreicht zweifellos die Befreiung, die in der fünften Grundlage gelehrt wird. (141)

Ich verneige mich immer wieder vor den Füßen des Erleuchteten, der das Selbst kennt,
der frei von Anhaftung alles durchdringt, obwohl er verkörpert ist. (142)

OM


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Stand: 11.09.2018