Pushpak Vishnu PuranaZurück WeiterNews

2.13. Die Geschichte des Bharata

Maitreya sprach:
Oh ehrwürdiger Herr, alle meine Fragen hast du mir gründlich beantwortet und die Beschaffenheit der Erde, Ozeane, Berge, Flüsse und planetarischen Körper sowie das System der drei Welten erklärt, das sich in Vishnu gründet. Du hast mir sogar das große Ziel des Lebens und die heilige Weisheit verkündet. Nun bitte ich dich, mir auch die erwähnte Geschichte von König Bharata zu erzählen. Dieser Beschützer der Erde lebte (im Alter als Waldeinsiedler) an der heiligen Pilgerstädte Salagrama, war voller Hingabe und hatte seinen Geist beständig auf Vasudeva gerichtet. Wie kam es, daß er trotz seiner Hingabe an diesem heiligen Ort die höchste Befreiung nicht erreichen konnte? Wie kam es, daß er als ein Brahmane wiedergeboren wurde? Und was tat der großmütige Bharata als Brahmane? Bitte erzähle mir alles darüber, oh Bester der Munis.

Und Parasara sprach:
Oh Maitreya, der berühmte Herr der Erde wohnte (im Alter als Waldeinsiedler) eine beträchtliche Zeit in Salagrama und richtete seinen Geist allein auf die Gottheit. Sein Verhalten war voller Güte und Tugend, und so erreichte er die vollkommene Kontrolle über seine Gedanken. Der König wiederholte beständig die Namen Yajnesa, Achyuta, Govinda, Madhava, Ananta, Kesava, Krishna, Vishnu und Hrishikesha. Nichts anderes rezitierte und meditierte er. Selbst in seinen Träumen dachte er nur an diese Namen und ihre Bedeutung. Er nahm nur Brennstoff, Blumen und heiliges Gras für die Verehrung der Gottheit an und führte keine anderen religiösen Riten durch. So war er ganz und gar in eine unvoreingenommene, objektlose Hingabe vertieft.

Eines Tages ging er zum Fluß Mahanadi, um seine Waschung durchzuführen. Er badete und vollbrachte die üblichen Zeremonien im Anschluß. Währenddessen erschien an diesem Ort eine schwangere Hirschkuh aus dem angrenzenden Wald, um in diesem Fluß zu trinken. Doch als sie gerade ihren Durst stillte, hörte sie plötzlich das laute und fürchterliche Brüllen eines Löwen, wodurch die Hirschkuh panisch erschrocken aus dem Wasser ans Ufer sprang. Durch diesen heftigen Sprung wurde ihr Junges plötzlich geboren und fiel in den Fluß. Der König sah, wie es von der Strömung weggetragen wurde, ergriff das Kitz und rettete es vor dem Ertrinken. Die Verletzung, welche die Hirschkuh durch diese gewaltsame Anstrengung erlitt, erwies sich als tödlich, und sie legte sich hin und starb. Als der königliche Asket dies sah, nahm er das Kitz in die Arme und ging damit in seine Klause zurück. Dort fütterte und pflegte er es, so daß es unter seiner Sorge gedieh und aufwuchs. Bald tollte es in der Einsiedelei umher und streifte durch die Wiesen der Umgebung. Und wann immer es unterwegs war und von einem wilden Tier erschreckt wurde, floh es in die Sicherheit der Einsiedelei. Bald verließ es jeden Morgen die Hütte und kehrte jeden Abend zur strohbedeckten Laube des Bharata zurück. Während das Kitz auf diese Weise in der Einsiedelei wohnte, war der Geist des Königs stets um das Tier besorgt, das umherwanderte, aber immer wieder an seine Seite zurückkehrte. Er war bald außerstande, an irgend etwas anderes zu denken. Er hatte sein Königreich, seine Kinder und alle seine Freunde vergessen und verlor sich jetzt in egoistische Zuneigung zu diesem jungen Hirsch. Wenn er längere Zeit als gewöhnlich ausblieb, begann er sich einzubilden, daß er vom Wolf fortgeschleppt, von einem Tiger verschlungen oder einem Löwen gerissen wurde.

So rief er bald:
Die Erde ist überall von seinen Hufabdrücken übersät. Wo ist der junge Hirsch, der zu meinem Entzücken geboren wurde? Wie glücklich bin ich, wenn er aus dem Dickicht zurückkehrt und sein wachsendes Geweih an meinem Arm reibt. Diese Büschel heiligen Grases, deren Spitzen von seinen kleinen Zähnen angenagt wurden, erscheinen mir wie fromme Knaben, welche die Saman Lieder singen.

So dachte der Muni, wenn der Hirsch längere Zeit fernblieb und strahlte ihn mit freudigem Gesicht an, wenn er wieder neben ihm stand. Seine selbstlose Hingabe verschwand und der Geist des Königs wurde von dem jungen Hirsch ergriffen, obwohl er Familie, Reichtum und Herrschaft verlassen hatte, um Entsagung zu üben. Die Entschlossenheit seines Geistes wankte und die Gedanken wanderten, wenn der Hirsch wanderte, und waren nur beruhigt, wenn der Hirsch ruhig neben ihm lag. So kam der alte König im Laufe der Zeit ganz unter seinen Einfluß. Als er dann starb, betrauerte ihn der Hirsch mit Tränen in den Augen, wie ein Sohn um seinen Vater trauert. Und er selbst richtete noch im Sterben seine Augen auf das Tier und dachte an nichts anderes. Aufgrund dieser vorherrschenden Neigung während des Sterbens wurde er in den Jambumarga Wäldern als ein Hirsch mit der Fähigkeit wiedergeboren, sich an sein ehemaliges Leben zu erinnern. Diese Erinnerung ließ ihn Entsagung von der Welt üben, so daß er seine Mutter verließ und wieder zum heiligen Ort Salagrama wanderte. Dort lebte er von trockenem Gras und Blättern und büßte für die Taten, die ihn zu einer solchen Geburt geführt hatten. Nach seinem Tod wurde er als Brahmane geboren und hatte immer noch die Erinnerung an seine vorherigen Existenzen. Er kam in eine fromme und bedeutende Familie von Asketen, die beständig die Tugend und religiösen Riten bewahrten. Mit Weisheit gesegnet und erfahren in der Essenz aller heiligen Schriften, erkannte er die Höchste Seele als alldurchdringend und jenseits der Materie (Prakriti). Von Selbsterkenntnis erfüllt sah er die Götter und alle anderen Wesen als Einheit. Er begehrte weder die Initiation mit der heiligen Schnur noch die Übertragung der Veden von seinem geistigen Lehrer, große Zeremonien oder langwieriges Studium der Schriften. Wann auch immer er angesprochen wurde, antwortete er zusammenhanglos, unverständlich und ungehobelt. Sein Körper war schmutzig und in Lumpen gekleidet. Der Speichel sabberte aus seinem Mund, und die Leute behandelten ihn mit Geringschätzung.

Denn übergroße Rücksicht auf die Ansprüche der Welt wirkt zerstörend auf den Erfolg der Hingabe. Ein Asket, der von gewöhnlichen Leuten verachtet wird, kann das Ziel seiner Entsagung erreichen. Mögen die heiligen Menschen den Pfad der Tugend ohne Murren gehen und die Anhaftung an das Menschsein überwinden, auch wenn sie dafür verachtet werden. Diesen Rat von Brahma selbst rief der Brahmane in seine Erinnerung und erschien in den Augen der Welt wie ein verrückter Dummkopf. Seine Nahrung waren rohe Hülsenfrüchte, Kräuter, wilde Früchte und Getreidekörner. Er aß nur das, was ihm zufiel, allein um den Körper zu ernähren, wie man eine vorübergehende Wunde heilt (die Getränke als Reinigung, die Speise als Heilsalbe und die Kleidung als Verband). Nach dem Tod seines Vaters wurde er von seinen Brüdern und Neffen für die Arbeit auf den Feldern verpflichtet und mit schlechtem Essen versorgt. Er war zäh und kräftig wie ein Bulle, aber handelte in der Welt wie ein Dummkopf (ohne nach Gewinn zu streben). So wurde er von den Leuten ausgenutzt, und als Lohn empfing er nur kärgliche Nahrung.

Als der Oberdiener des Königs von Sauvira diesen scheinbar dummen und ungelehrten Brahmanen erblickte, betrachte er ihn als billigen Arbeiter (und nahm ihn in den Dienst seines Herrn). Eines Tages bestieg der König seine Sänfte, um zur Einsiedelei von Kapila an den Ufern der Ikshumati zu reisen. Er wollte den Weisen fragen, dem die Tugenden auf dem Weg zur Befreiung bekannt waren, was in einer Welt voller Verantwortung und Sorgen am wünschenswertesten ist. Unter den Trägern, die der Oberdiener zum Tragen der Sänfte bestimmt hatte, war auch der Brahmane, der wie alle anderen zu dieser Aufgabe gezwungen wurde. Doch er hatte die alldurchdringende Einsicht und die Erinnerung an seine ehemalige Existenz, und so trug er diese Last als Mittel, um die angesammelten Schulden zu sühnen. Er richtete seine Augen allein auf die Tragestange und ging langsam voran, während die anderen Träger voller Ehrgeiz schneller gingen. Als der König merkte, wie die Sänfte holperte, rief er: „Ho Träger! Was ist los? Geht im Gleichschritt!“ Doch es holperte weiter und der König rief erneut: „Was ist das? Wie ungleichmäßig geht ihr!“ Nach wiederholter Rüge antworteten die Träger schließlich dem König: „Es ist dieser eine Mann, der in seinem Schritt so langsam geht.“

Da fragte der König den Brahmanen:
Was ist der Grund? Bist du müde? Du hast diese Sänfte nur eine kurze Strecke getragen. Kannst du eine solche Last nicht tragen? Du siehst doch so kräftig aus!

Darauf antwortete der Brahmane:
Das bin nicht ich, der so kräftig erscheint, noch bin ich es, der diese Sänfte trägt. Ich bin auch nicht müde, noch könnte ich je erschöpft werden.

Da sprach der König verwundert:
Ich sehe doch klar und deutlich, daß du kräftig bist und diese Sänfte von dir getragen wird. Und das Tragen einer solchen Last ist für alle Personen ermüdend.

Darauf antwortete der Brahmane:
Oh König, was siehst du von mir so klar, wodurch du mich als stark oder schwach beurteilen kannst? Auch die Behauptung, daß du mich die Sänfte auf meinen Schultern tragen siehst, entspricht nicht der Wahrheit. Höre den Grund dafür, oh König. Die Füße werden durch die Erde getragen, die Beine durch die Füße, der Bauch durch die Beine, die Brust durch den Bauch, die Arme und Schultern durch die Brust und die Sänfte von den Schultern. Wie kann man behaupten, daß ich diese Last trage? Du meinst, dieser Körper in der Sänfte, das bist du. Deshalb unterscheidest du alle Wesen in Ich und Du. Doch Ich, Du und Andere entstehen durch die Elemente, denn die Elemente folgen den Prägungen der natürlichen Qualitäten und formen die Körper der Geschöpfe. Die natürlichen Qualitäten, nämlich Güte, Leidenschaft und Trägheit, sind wiederum von den Taten abhängig, denn die Taten, welche in Unwissenheit angesammelt werden, bestimmen als Karma die Bedingungen für alle Wesen. Die reine Seele ist unvergänglich, still und frei von den natürlichen Qualitäten. Sie ist jenseits der Natur (Prakriti), wohnt in allen Körpern und kennt weder Gewinn noch Verlust. Wenn sie aber weder Gewinn noch Verlust kennt, warum sprichst du dann zu mir, das ich besonders kräftig bin? Und wenn die Sänfte auf den Schultern ruht, die Schultern auf dem Körper, der Körper auf den Füßen und die Füße auf der Erde, dann wird diese Last nicht von mir allein (bzw. „persönlich“) getragen. Oh König, sind es nicht alle Wesen, welche die Last dieser Sänfte tragen? (Der König sorgt für den Schutz der Erde, Indra für den Regen, die Erde für die Bäume, der Holzfäller für das Holz, der Handwerker für die Sänfte, der Bauer für die Nahrung usw.) Warum sprichst du dann zu mir, daß ich ermüdet sein könnte, von einer Last, die auf den Schultern unzählig vieler Wesen getragen wird? Und nicht nur diese Sänfte, sondern auch die Berge, Bäume, Häuser und selbst die ganze Erde werden von ihnen getragen. Wahrlich, wenn ich als Mensch wesenhaft von allem getrennt wäre, dann könnte man wohl behaupten, daß ich erschöpfbar sei. Oh König, die Substanz dieser Sänfte ist die gleiche wie deine, meine und die aller anderen Geschöpfe. Es sind Anhäufungen der Elemente, welche durch Karma verfestigt und angesammelt wurden.

So sprach der Brahmane, verstummte und fuhr fort, die Last der Sänfte zu tragen. Aber der König sprang heraus und warf sich demütig zu dessen Füßen und sprach:
Habe Mitgefühl mit mir, oh Brahmane, und stelle diese Sänfte ab. Sage mir, wer du unter dieser äußerlichen Verkleidung eines Dummkopfes bist. Warum bist du hier erschienen, und was ist dein Ziel?

Darauf antwortete der Brahmane:
Höre mich, oh König. Wer ich bin, kann ich unmöglich sagen. Man erscheint an einem Ort, um die Früchte der Tugend zu genießen oder der Sünde zu erleiden. Das ist die Ursache für die Entstehung eines Körpers. Denn ein lebendes Wesen nimmt eine körperliche Form an, um die Wirkung der angesammelten Tugend oder Sünde (des Karmas) zu ernten. Die allumfassende Ursache aller Lebewesen ist Tugend und Sünde. Warum fragst du mich, warum ich hier erschienen bin?

Der König sprach:
Zweifellos sind Tugend und Sünde die Ursachen aller existierenden Erscheinungen, und die Wanderung in verschiedenen Körpern hat den Zweck, die entsprechenden Wirkungen zu erfahren. Aber bezüglich deiner Behauptung „Wer ich bin, kann ich unmöglich sagen.“, möchte ich mehr von dir erfahren. Oh Brahmane, warum sollte es für einen Menschen unmöglich sein zu erklären, wer er ist? Ist es denn schädlich, wenn man das Wort „Ich“ verwendet?

Darauf antwortete der Brahmane:
Es ist wahr und bringt keinen Schaden, wenn man das Wort „Ich“ auf sein Selbst anwendet. Aber der Ausdruck wird schädlich und zur Lüge, wenn man damit etwas bezeichnet, was nicht das wahre Selbst oder die Höchste Seele ist. Oh großer König, wie kann man sich mit dem Wort „Ich“ identifizieren? Dieses Wort wird von der Zunge in Abhängigkeit der Lippen, der Zähne und des Gaumens artikuliert. Es entsteht, wie alle Worte der Rede entstehen. Das soll ich sein? Oh großer König, wie kann man sich mit dem Körper identifizieren? Der Körper eines Menschen besteht aus Kopf, Händen, Füßen und vielen anderen Teilen. Welcher Teil davon soll ich sein? Oh großer König, wie kann man sich mit einem getrennten Wesen identifizieren und behaupten, daß es „Ich“ und „Du“ sowie „Mein“ und „Dein“ gibt? Du weißt doch, daß die eine Seele in allen Körpern wohnt. Warum fragst du mich dann, wer ich bin? Und wer bist du? Dein Königstitel, deine Sänfte, deine Träger, deine Diener, deine Gefolgschaft: Bist du das? Ist das dein? Diese Sänfte, in der du sitzt, ist aus Holz gemacht, und das Holz kommt von den Bäumen. Was nennt man Sänfte, Holz oder Baum? Die Leute sagen doch nicht, daß der König auf Holz oder einem Baum sitzt, wenn du deine Sänfte bestiegen hast. Erkenne, wie diese Sänfte aus Holzsteilen besteht, die kunstvoll zusammengefügt wurden. Finde heraus, oh König, wodurch sich die Sänfte in Wahrheit vom Holz unterscheidet. So untersuche auch die Holzspeichen und anderen Teile deines Schirmes. Wo ist der Schirm? Und diese Sichtweise wende entsprechend auf mich und dich an.

Mann, Frau, Kuh, Ziege, Pferd, Elefant, Vogel, Baum usw. sind Namen, die man besonderen Körpern gibt, die als Wirkung aus Taten entstanden sind. Man selbst ist weder Gott noch Mensch, Tier oder Baum. Dies sind nur besondere Gestaltungen, die Früchte vergangener Taten. Was man in der Welt König, Träger oder Sänfte nennt und so real erscheint, ist nur eine Schöpfung unserer Einbildungskraft. Welches Geschöpf ist nicht der Veränderung unterworfen, durch die es im Laufe der Zeit verschiedene Namen bekommt? So wirst du von der Welt König, von deinem Vater Sohn, von deinen Feinden Feind, von deiner Frau Ehemann und von deinen Kindern Vater genannt. Welcher Name bist du? Und wo bist du? Bist du im Kopf, im Bauch oder den Füßen? Sind sie dein? Bist du das? Oh König, du bist jenseits all dieser Teile! So überlege dir diese Frage und erkenne wahrhaft, wer ich bin. Und wenn die Wahrheit erkannt ist, wie könnte man noch Trennung sehen und diese menschliche Persönlichkeit als „Ich“ bezeichnen?


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